Luigi Enrico Rossi versteht das antike Epos als unendliche Spirale (spirale infinita) mit offenem Konzept. Die Episoden-Struktur (frammentazione in episodi) sieht er am deutlichsten in Zeile 10 der Odyssee bestätigt: τῶν ἁμόθεν γε, θεά, θύγατερ Διός, εἰπὲ καὶ ἡμῖν.
Nach allen Übersetzungen, die ich bisher angeführt habe, versteht man das nicht. In der Übersetzung von Christoph Martin, die mich zu der Serie über die Odyssee angeregt hat, ist es sofort klar:
Erzähl auch uns davon, Muse, Tochter des Zeus, und fang einfach irgendwo an.
Homer: Die Odyssee. Erzählt von Christoph Martin. Frankfurt: Eichborn 1996 (zitiert aus dem Gedächtnis)
Der Bayerische Rundfunk kündigt die Hörspiel-Serie denn auch konsequenterweise als Soap-Opera an.
Es liegt an der Vokabel ἁμόθεν, sprich hamothen (th wie das englische th), die Rossi mit „da un punto qualunque“ (von einem beliebigen Punkt aus) übersetzt. Er schreibt:
Es ist seltsam, dass das Schlüsselwort ἁμόθεν so oft von Übersetzern missverstanden wurde, obwohl es genau das bedeutet, was ich in Übersetzung vorgelegt habe.
Luigi Enrico Rossi: Introduzione. In: ders. (Hg.): L’epica classica nelle traduzioni di Caro, Dolce, Pindemonte, Monti, Foscolo, Leopardi, Pascoli e altri. Roma: Istituto poligrafico e zecca dello stato 2003, S. IX, Übersetzung von mir
Karl Friedrich Ameis, der den Homer ebenfalls für den Schulgebrauch, aber ganz anders als John Allen Giles aufbereitet hat, übersetzt die fragliche Vokabel wie Rossi mit „von irgendeinem Punkte an“ (ich hoffe, man kann es lesen):
Ob er daraus auf ein offenes Konzept schließt? Eher nicht, vermutlich war der Werkgedanke zu dominant, und ein Werk hatte nun einmal abgeschlossen zu sein. Work in progress ist keine neue Erfindung, wird aber – soweit ich das weiß – erst in unserer Zeit als kunstwürdig eingestuft.
Die Verehrung für den „Vater aller Poeten“, der kein unvollkommenes, sprich unabgeschlossenes Werk hinterlassen haben kann, erklärt womöglich den blinden Fleck älterer Übersetzungen.
ἁμόθεν gehört zu den Worten, die Madame Dacier in ihren Anmerkungen zur Odyssee ausdrücklich diskutiert: Sie übersetzt es mit une partie, einen Teil (S. 51), führt als Quelle das griechische Wörterbuch des Hesychios von Alexandria an, der es als „ein bestimmter Teil von dem, was man sich wünscht“ bezeichne, und fährt fort: Mit dem Wort bringe der Dichter zum Ausdruck, er werde nur einen Teil der Abenteuer des Helden erzählen:
Car il n’y a qu’une partie qui soit le véritable sujet du Poëme Epique. Il ne traite qu’une seule action; mais par le moyen des épisodes il rapporte toutes les aventures qui peuvent être liées avec cette action principale, & ne faire avec elle qu’un même tout. (Denn nur ein Teil bildet das eigentliche Sujet des Heldengedichts, aber die Haupthandlung ist so gestaltet, dass, auf Episoden verteilt, alle Abenteuer, die auf sie bezogen werden können, mit ihr in ein Ganzes finden.)
L’Odyssée d’Homere, traduite en francois, avec des remarques. Par Madame Dacier, Tome Premier. Nouvelle Edition revuë, corrigée & augmentée. A Paris, Du Fonds des Messieurs Rigaud & Anisson, Chez G. Martin, H. L. Guerin, A. Boudet, & L. F. Delatour, Libraires. MDCCLVI (1756) avec privilege du roi. S. 51, Deutsch von mir
Madame Dacier erkennt den Episodencharakter der Odyssee, sieht darin aber keine infinite Spirale, sondern das abgeschlossene Werk, als das es Aristoteles in seiner Poetik beschreibt. In deren 23. Abschnitt steht:
Er [Homer] hat sich daher einen einzigen Teil vorgenommen und die anderen Ereignisse in zahlreichen Episoden behandelt
Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam 1972, S. 79
Und Manfred Fuhrmann erläutert dazu:
Episoden: hier Abschnitte des epischen Geschehens […], die einerseits nicht Teil der Haupthandlung sind und sich andererseits nicht zu ‚Episoden‘ (im heutigen Sinne) verselbständigt haben.
a.a.O. S. 133
Die Tradition, die den Blick auf den von Rossi eingeforderten Episodencharakter verstellt, ist sehr alt.