Wenn die Katze …

… aus dem Haus ist, tanzen die Mäuse auf dem Tisch. Das wäre – so sieht es Madame Dacier – der Kern der Odyssee: In Ithaka geht es drunter und drüber, weil der König so lange weg ist.

Band 1 von Madame Daciers Odyssee-Übersetzung in der dritten und bis heute letzten Ausgabe von 1756. Bleischlange und Schaumstoffkeile bekommt man im Rara-Lesesaal von der Staatsbibliothek Berlin zur Verfügung gestellt, damit die alten Schätze die Nutzung ohne Rückenprobleme überstehen.

In ausführlichen Vorworten (zur Odyssee rund 100 Seiten) und umfangreichen Anmerkungen zu ihren Übersetzungen erläutert sie den Text, erklärte seine Botschaft, Ethik und Ästhetik und äußerte sich dezidiert zu Fragen, die damals offenbar heiß diskutiert wurden, zitierte neben antiken Quellen Zeitgenossen, polemisierte, argumentierte. Die meisten wird sie persönlich gekannt, in Pariser Salons getroffen haben.

Aufgeschlagenes Buch, oben unter dem Kolumnentitel zwei Zeilen Text, der Rest der Seite besteht aus Fußnoten
Der Amsterdamer Verleger der zweiten Auflage 1731 entschied sich, die Anmerkungen als Fußnoten direkt zum Text setzen zu lassen. Fotografiert nach dem Exemplar der Staatsbibliothek Berlin.

Ihre Anmerkungen gehen Schritt für Schritt durch den Text, kommentieren Halbsätze, Ausdrücke, Wörter, je nachdem. Im Aufbau unterscheidet sich ihre Ausgabe nicht sehr von der 2019 erschienenen Ausgabe, die Simon Pulleyn verantwortet. Für die 10 Zeilen der Anrufung braucht sie 10 Seiten (Angaben nach der Ausgabe 1756, S. 42-52). Vorgeschaltet sind einige Überlegungen zur „Natur dieses Poems“, denn, so entschuldigt sie die Wiederholung bereits im Vorwort ausgeführter Thesen, junge Leser müssten die Chance bekommen, Absicht und Vorgehensweise des Dichters einordnen zu können: Während die Ilias für ein im Kriegszug vereintes Griechenland geschrieben sei, sei die Odyssee Belehrung für jeden einzelnen der griechischen Staaten (S. 39).

Ein Staat besteht aus Fürst und Untertanen, also braucht es Belehrung für den Kopf des Ganzen und Belehrung für die Gefolgschaft. Kluge Politik setzt eine gute, langjährige Ausbildung voraus, für die der Fürst nicht im Land bleiben darf, aber wenn er außer Landes weilt, verursacht das große Unordnung zu Hause. Deswegen hat Homer die Odyssee geschrieben (S. 39ff).

Und die Untertanen: Was denen passiert, wenn sie nicht auf ihren Fürsten hören, sieht man am Schicksal der letzten Gefährten von Odysseus, die gegen seinen Willen die Rinder des Sonnengottes schlachteten und dafür mit ihrem Leben büßten (S. 41f).

Am Ende der Vorbemerkungen verweist sie auf René Le Bossus 1675 in Paris erschienenen Traité du Poëme Epique, Bd. 1, Kap. 10 (S. 42). Die Lektüre zeigt: Daciers Vorbemerkung ist eine Zusammenfassung des genannten Kapitels, die meisten Formulierungen sind fast wörtlich daraus übernommen.

Le Bossus Abhandlung vom Heldenepos, eine der Streitschriften im Homer-Streit, der eine Fortsetzung der Querelle des Anciennes et des Modernes war. Die Schrift wurde ins Englische (1709) und ins Deutsche übersetzt (1753) und auf Französisch mehrfach wiederaufgelegt. Religiös aufgeladen das Titelkupfer: Homer (?) empfängt von Apollon/Helios die ars poetica, und das sieht aus wie bei Moses und den 10 Geboten

Anne Dacier folgt Le Bossu auch in seiner Auffassung, wie ein Schriftsteller sein Werk zu verfassen habe: Storyboard outlinen, Aussage festlegen, Personal rekrutieren … Bossu wiederum folgt der Poetik von Aristoteles, hier speziell Kapitel 17, und darin heißt es:

Die Stoffe […] soll man […] zunächst im allgemeinen skizzieren und dann erst szenisch ausarbeiten […] Daraufhin soll man die Namen einsetzen […]

Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam 1972, S. 55

Ein aristotelianischer Homer ist die Elle, an der Madame Dacier in ihrem Kommentar zeitgenössische Autoren misst. Sie bescheinigt ihnen, dass sie ihm (und Vergil) nicht das Wasser reichen können, viel zu viel Tamtam machen, den Mund zu voll nehmen: Seid bescheiden, sagt sie, bleibt einfach, meidet jeden Pomp (S. 45).

Ausführlich befasst sie sich mit dem Wort πολύτροπος, das sie mit prudent, klug, übersetzt hat, und die Erläuterung (wieder mit Verweis auf Le Bossu) läuft darauf hinaus, dass Odysseus nicht einfach nur klug gewesen sei, dass seine Form der Klugheit näher bestimmt werden müsse, dass er nämlich wie Saul in der Bibel dank seiner Klugheit geschickt seine Absichten habe verschleiern, verheimlichen können, getreu der Maxime Ludwigs XI. von Frankreich: Wer sich nicht auf Finten versteht, kann nicht regieren (S. 46).

Das ist nicht so weit von heutigen Interpretationen, die das Schillernde, Uneindeutige des Begriffs betonen und polytropos zwischen viel gereist und geistig wendig ansiedeln, aber durch Referenzen auf andere auf Odysseus gemünzte Adjektive Deutungen von listig bis hin zu verschlagen mitdenken (vgl. Homer: Odyssey, Book 1. Edited with an Introduction, Translation, Commentary, and Glossary by Simon Pulleyn. Oxford University Press 2019, S. 94).

Der größte Teil ihrer Anmerkungen betrifft Hintergrundinformation – Homer nenne Odysseus den Städtezerstörer, weil er zwar nicht der tapferste, wohl aber der klügste Feldherr gewesen sei und deswegen Minerva (=Athene) gefiel; bei den alten Griechen hätten weitgereiste Personen hohes Ansehen genossen; die wegen der geschlachteten Rinder des Sonnengottes untergegangenen Gefährten seien nur der Rest der Truppe gewesen, die anderen schon vorher auf die eine oder andere Art zu Tode gekommen; usw.

Detail aus einer Kommentarseite. Der französische Text lautet: 14. Malgre l'impatience qu'il avoit de revoir sa fimme & ses Etats.] Homere est toûjours moral, il ne veut pas que nous perdions un seul moment des vûe la sagesse de son Heros ; ...
Aus Mme. Daciers Kommentar zu ihrer Übersetzung: „Homer ist stets Moral, er will nicht, dass wir auch nur einen Augenblick die Weisheit seines Helden aus dem Blick verlieren“. Die Fotografie zeigt die Stelle in der Erstausgabe 1716, Exemplar der Berliner Staatsbibliothek.

Neben dem unerreichten Vorbildcharakter von Homers Komposition ist Madame Dacier vor allem eins besonders wichtig: der moralischen Mehrwert des Epos, seine didaktische Qualität:

Homer nutzt jede Gelegenheit, um in diesem Punkt hervorragende Anleitungen zu geben, wenn auch indirekt und damit besonders effizient.

L’Odyssée d’Homere, traduite en francois, avec des remarques. Par Madame Dacier, Tome Premier. Nouvelle Edition revuë, corrigée & augmentée. A Paris, Du Fonds des Messieurs Rigaud & Anisson, Chez G. Martin, H. L. Guerin, A. Boudet, & L. F. Delatour, Libraires. MDCCLVI (1756) avec privilege du roi. S. 51, Übersetzung BD

Ich denke, das wirkt auf ihre Übersetzung zurück: Wenn es vor allem auf das Lehrstück, den Inhalt ankommt, ist die Form des Werkes zweitrangig und eine Prosaübersetzung schon deswegen angeraten, weil sie ihr Zielpublikum – die Jugend – besser erreicht.

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