Zur notwendigen Interpretationsleistung beim Übersetzen zählt die Entscheidung, wann ein Ausdruck unbedingt im ganzen Buch beibehalten werden, jede Änderung also überall angeglichen werden muss, und wann von Fall zu Fall entschieden werden kann.
Wenn ich an einer Stelle kroatisch abis mit Abyss übersetze, muss ich schon sehr gute Gründe für den Neologismus haben. Wenn ich im weiteren Verlauf der Übersetzung im kroatischen Text wieder auf abis stoße, wieder an einer Stelle, die existentiell aufgeladen ist, muss ich neu überlegen: Wenn ich an der zweiten Stelle Abyss nicht verwenden kann, beide Stellen aber inhaltlich so miteinander verzahnt sind, dass dasselbe Wort ein wichtiger Fingerzeig wäre, dann muss ich mir für die erste Stelle eine andere Lösung einfallen lassen.
Wenn, wie im konkreten Fall, die inhaltliche Verzahnung schon gegeben, aber nicht auf den Fingerzeig eines bestimmten Wortes angewiesen ist, damit das beim Publikum ankommt, dann kann ich hier anders entscheiden als dort.
I dok on tako na vrhu umovaše, ugleda dva abisa.
Janko Polić Kamov: Isušena kaljuža, eLektire.skole.hr, S. 37
Also ungefähr: Und während er so auf dem Gipfel grübelte, sah er zwei Abgründe.
Gegen Abysse als Übersetzung für abisa spricht, dass der Plural auf Deutsch fürchterlich klingt, dass der apokalyptische Kontext hier nicht im Vordergrund steht und Abgrund von der Metaphorik her gut passt. Aber um meine Argumentation inhaltlich nachvollziehen zu können, müsste man den Kontext beider Stellen kennen.
Mich frappiert die Komplexität der Überlegungen, die ich im Lauf einer Übersetzung anstelle, selbst immer wieder, und in einer Hinsicht macht sie mir Angst.
Wenn meine Übersetzung erscheint und die Kritiker auf den Plan treten, ist es für mich mindestens Monate, meistens über ein Jahr her, dass ich daran gearbeitet habe. In der Regel habe ich das Meiste dann vergessen und kann selbst nicht mehr nachvollziehen, warum ich was wie übersetzt und welche Quellen ich dafür herangezogen habe – es sei denn, ich knie mich mit derselben Intensität wie beim Übersetzen wieder in den Text hinein.
Wahrscheinlich schreibe ich hier nicht nur, um den Beruf des literarischen Übersetzers aus seinem Schattendasein herauszuholen, oder weil angesichts der Kamov-Übersetzung ein paar Grundsatzüberlegungen anstehen, ich schreibe wohl auch, um wenigstens exemplarisch die Wege aufzuzeigen, warum und wie ich zu meinen Lösungen komme – wenn dann mal wieder einer fragt: Warum steht bei Ihnen ein Plural, wo im Original ein Singular ist …