Voß und die Folgen

Von Bodmers zur Voßschen Odyssee.

Johann Heinrich Wilhelm Tischbein: Johann Heinrich Voß. Lithografie 1826

Tischbeins Zeichnung zeigt den kanonischen deutschen Übersetzer der Odyssee am Ende seines Lebenswegs, 1826 ist Johann Heinrich Voß gestorben. 1821 erschien seine Übersetzung der Odyssee in fünfter Auflage, von ihm ein letztes Mal überarbeitet. Er hat sie für jede neue Auflage überarbeitet, also gewissermaßen nie eine kanonische Übersetzung vorgelegt, selbstkritisch immer neue Lösungen gesucht. Durchgesetzt aber hat sich die erste Fassung von 1781.

Anrufung 1781

Anrufung 1793

Ganze zwei Zeilen sind in beiden Fassungen identisch: Vieler menschen städte gesehn, und sitte gelernt hat, und: Denn sie bereiteten selbst durch missethat ihr verderben.

Die erste Zeile – Sage mir, Muse, die Thaten des vielgewanderten Mannes (1781) / Sage mir, Muse, vom manne, dem vielgewandten, der vielfach (1793) – hat er offensichtlich geändert, um das wiederholte poly/viel des Originals zu retten. Außerdem hat er sich für die andere Bedeutung des griechischen polytropon entschieden, das sowohl viel herumgekommen als auch mit allen Wassern gewaschen heißen kann.

Der Preis für das gerettete poly/poly (das in der dritten Zeile wieder aufgenommen wird) ist, dass der Satz auf der nächsten Zeile weitergeht, ein sogenanntes Enjambement. Der Zeilensprung gilt zwar als ausgefuchstes Stilmittel, erschwert aber die Lesbarkeit.

Gerade die Lesbarkeit scheint mir aber der große Unterschied zu Bodmers Fassung, auch wenn wir Heutigen uns erst in die historische Sprache einlesen müssen – so würden wir eher Erzähl mir statt Sage mir erwarten.

Bodmer zieht die Sinneinheiten oft über das Zeilenende hinaus, Voß in der ersten Fassung ein einziges Mal, Toren, welche die Rinder … / Schlachteten. Erst in der zweiten Fassung nutzt Voß das Enjambement zwei Mal: So wie er es bei Homer vorfindet.

Außerdem gehen Voß die Hexameter leichter von der Hand als Bodmer. seine Verse sind metrisch geschmeidiger. Vier Daktylen, zwei Jamben, also doppelt so viele drei- als zweigliedrige Versfüße. Dadurch kommt Ruhe in den Duktus, ohne dass es monoton wirkt.

Voss: Sage mir, Muse, die Thaten des vielgewanderten Mannes,

Bodmer: Gieb mir Muse, den Mann voll weiser liste zu singen,

Bei Bodmer ist es umgekehrt: vier Jamben, zwei Daktylen, und dadurch wirkt sein Poem abgehackter. Und das „voll“ ist noch dazu uneindeutig, es gehört vom Sinn her auch betont, und dann ist der ganze Rhythmus hin: gehäckselter Hexameter.

Gemein, gell?

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