Bodmers Mußewunsch

Voß und Bodmer: Zwei deutschsprachige Homerübersetzer, die ihre Version der Odyssee fast zeitgleich vorlegten. Ich beginne mit dem älteren der beiden, Johann Jakob Bodmer, 1698 bei Zürich geboren, 1783 bei Zürich verstorben, in Zürich hat er die meiste Zeit seines Lebens gelebt, bis auf einige Lehrjahre im Seidenhandel, da war er in Genf, Lyon und Lugano.

Johann Heinrich Füssli hat sich mit Bodmer und einer Büste, die vermutlich Homer darstellen soll, ein Jahr nach der Veröffentlichung der Odyssee gemalt. Es zeigt den Übersetzer als alten Herrn im Lehnstuhl, der sich mit pelzgefüttertem Hausmantel, Mütze und Schal gegen die Kälte gewappnet, aber nichts von seiner geistigen Frische verloren hat und seinen Äußerungen mit bemerkenswert feingliedrigen Händen Nachdruck verleiht.

Johann Heinrich Füssli: Selbstporträt im Gespräch mit Johann Jakob Bodmer, Öl auf Leinwand, um 1779 (Kunsthaus Zürich)

Bevor ich nun auf Bodmers Übersetzung eingehe: Ich denke mich als Übersetzerin in sie hinein, nicht als Philologin. Und ich komme aus Hessen – das sage ich deshalb, weil der Dialektraum, aus dem man stammt, einen großen und womöglich ungerechten Einfluss auf Wohl- oder Missfallen beim Lesen hat.

Gieb mir Muse, den Mann voll weiser liste zu singen,
Der so lange herumgewallt, nachdem man die mauern
Trojens geschleift; der länder und staaten der sterblichen menschen
Und die verschiedenen sitten gesehn. Sein fühlendes herz hat
Auf dem stürmischen meer viel jammer erlitten, sein leben
Hätt‘ er für nichts geachtet, um seine gefährten zu retten,
Und nach hause zu bringen; der wunsch mißlang ihm; sie hatten’s
Ihrer thorheit zu danken, daß sie nicht lebten; die blöden
Assen die stiere, dem Gott der sonne geweiht; er versagte
Ihnen den tag des wiederkommens bey ihren geliebten.
Laß mich, o tochter Jovis! von diesen dingen erzählen.

Homers Werke. Aus dem Griechischen übersetzt von dem Dichter der Noachide [Johann Jakob Bodmer], Zweyter Band. Zürich, bey Orell, Geßner, Füeßlin und Compagnie 1778, S. 3

Was mir als Erstes ins Auge springt: Der Ich-Erzähler Homers bittet bei Bodmer – anders als in allen anderen Übersetzungen dieser Anfangszeilen, die mir bisher untergekommen sind – nicht die Muse, ihm etwas zu erzählen, sondern um Muße zum Erzählen. Ob Bodmer besonders originell sein wollte oder Hintergrundwissen einfließen ließ – der Göttin Worte kommen aus dem Mund des Sängers – oder den griechischen Text schlicht falsch verstanden hat – ich weiß es nicht und auch nicht, wie ich es herausfinden sollte.

Bodmer handelt sich damit das Kuriosum ein, dass der Mann gesungen wird, „der Mann voll weiser liste“ – die verschrobene Wirkung liegt nicht allein am Dativ-E. Odysseus ist klug und listig, darauf zielt Bodmer ab, aber grammatisch wird es uneindeutig: voll weiser liste könnte sich ebenso gut auf das singen beziehen.

In der letzten Zeile der Anrufung ist dieselbe Umdrehung wie in der ersten: Bodmers Ich-Erzähler will erzählen, die Göttin soll ihn nur machen lassen. Bodmer nutzt den lateinischen Namen des Göttervaters, nicht den griechischen, und folgt damit einer älteren Tradition.

Beim Herumwallen in der zweiten Zeile steigt der moderne Leser aus, vielleicht irritierte es schon so manchen Zeitgenossen. Mag sein, dass Bodmer, bei der Arbeit an der Übersetzung über sechzig Jahre alt, mit heute vergessenen Wendungen noch ganz vertraut war. Oder liegt es an dem Nord-Süd-Gefälle im deutschen Sprachraum? Was auch immer, durch diesen Ausdruck wirkt der Text überlagert,

Wenn ich den Eintrag „wallen“ im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm überfliege, drängt sich mir noch ein Gedanke auf: Wallen steht für eine heftige Bewegung, sei es eine unkontrollierbare Gemütserregung oder kochendes Wasser, tosende Fluten oder eine aufgebrachte Menschenmenge. Wallen klingt übertrieben.

Und das stimmt mit weiteren Beobachtungen überein. Bodmer setzt überall noch einen drauf. Er begnügt sich nicht mit der Torheit, muss Odysseus‘ Gefährten noch „die blöden“ überbraten. Er betont die sterblichen Menschen, vielleicht um den Text historisch-mythologisch zu situieren und den Gegensatz zur Götterwelt hereinzuholen. Er extrapoliert „sein fühlendes Herz“, wo bei Homer nur das Personalpronomen steht. Bodmers Odysseus ist so selbstlos, dass er sein Leben für seine Gefährten geben würde, was nicht so recht zu dem listenreichen Überlebenskünstler passt – damit bewege ich mich freilich auf dem glatten Eis der Interpretation.

Letztes Beispiel für Bodmers ausschmückende Ergänzungen: Wo bei Homer bloß von der Heimkehr die Rede ist, ergänzt er „bey ihren geliebten“. Möglich, dass ihm seine Dichtungstheorie, die den Akzent auf die Einbildungskraft legt, das Wunderbare betont und der Fantasie große Bedeutung zuschreibt, die Lizenz zu dieser Art des Übersetzens gibt.

Wesentlich wahrscheinlicher ist, dass ihn die Metrik dazu brachte. Vermutlich sollten es Hexameter werden, so richtig durchgezogen hat er das nicht, aber jede Zeile hat ungefähr 15 Silben.

Zurück zum Text: „Sie hattens ihrer Thorheit zu danken, dass sie nicht lebten“: Hier stimmt etwas nicht. Sie könnten die Heimkehr nicht erlebt, nicht überlebt haben, meinetwegen nicht zurückgekehrt sein, aber gelebt haben sie, gelebt und dummdreist ihre Chance vertan.

„Der Wunsch misslang ihm“ – wie soll ein Wunsch misslingen? Falsch gewünscht? Ein Wunsch kann nicht in Erfüllung gehen, sich nicht erfüllen, nicht realisieren lassen, man kann mit seinem Wunsch scheitern oder Schiffbruch erleiden, aber das ist schon wieder ein anderer Sinn. Misslingen kann ein Wunsch jedenfalls nicht.

Und doch: Lese ich mir die Verse laut vor, nimmt mich ihr Rhythmus gefangen. Im Vortrag entfalten sie ihren Charme, und sei es nur, weil ich dann nicht mehr bei einzelnen Wendungen innehalten kann.

Nebenbei: Man beachte die Kleinschreibung der Hauptwörter. Sie ist auch im Erstdruck der Übersetzung von Voß zu sehen. Erst in späteren Auflagen wird sie angepasst. Ob es Ende des 18. Jahrhunderts die für Lyrik oder gar nur für Übersetzungen aus den alten Sprachen gültige Konvention war – ich weiß es nicht. Sollte ich es herausfinden, werde ich berichten.

Dank der Kleinschreibung ist natürlich, da Eigennamen großgeschrieben sind, auch klar, dass Bodmer in der ersten Zeile sein Wort an die Muse richtet. Trotzdem stimmt meine Beobachtung oben: „Gib mir Muse, …“ heißt so viel wie „Muse, lass mich ,,,“

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