Muse, Göttin, Gottestochter

Für ein Seminar, das ich an der Friedrich-Schiller-Universität Jena zum Übersetzen halte, brauchte ich Anschauungsmaterial: Illias und Odyssee werden vermutlich nur von der Bibel übertroffen, was die Zahl der Übersetzungen und die Zahl der Sprachen betrifft, in die sie übersetzt wurden.

Also beschloss ich, mich mit den ersten zehn Zeilen der Odyssee zu beschäftigen. Über 2000 Jahre Übersetzungsgeschichte, viel online gemeinfrei zugängliches Material und im Ohr die Hörfassung nach der Übersetzung von Christoph Martin, die Bayern 2 in der ARD-Mediathek und als Podcast zur Verfügung gestellt hatte – passt.

Woche für Woche will ich ab heute meine Fundstücke hier vorstellen.

Für den Anfang der griechische Text, den „originalen“ Homer – die ganze Diskussion über den Verfasser, die Entstehung und Überlieferung des Epos ist für die Betrachtung der Übersetzungen, soweit ich das bisher einschätzen kann, eher nicht relevant.

Im Studium musste ich zwei Semester Altgriechisch und das große Latinum nachweisen. Für mein Projekt habe ich die damals eher widerwillig erworbenen Kenntnisse exhumiert, und siehe da – sie erwiesen mir trotz ihres Zustands fortgeschrittener Verwesung gute Dienste. Freilich ohne Gewähr.

Hier also die ersten zehn Zeilen der Odyssee, in der Literatur als Anrufung der Muse, Proömium oder Invocatio bezeichnet. Dazu eine Transkription und eine höchst dilettantische Interlinearübersetzung – die Blöße gebe ich mir nur, weil ohne Interlinearversion nicht nachvollziehbar ist, was in Übersetzungen passiert.

ἄνδρα μοι ἔννεπε, μοῦσα, πολύτροπον, ὃς μάλα πολλὰ
Andra moi ennepe, musa, polytropon, hos mala polla
(den) Mann mir erzähle, Muse, vielseitig/gewandt/wendig, der/welcher sehr viel

πλάγχθη, ἐπεὶ Τροίης ἱερὸν πτολίεθρον ἔπερσεν
plagchthä epei Troiäs hieron ptoliethron epersen
umherirrte, als/weil Troja heilige Stadt brandschatzte

πολλῶν δ᾽ ἀνθρώπων ἴδεν ἄστεα καὶ νόον ἔγνω,
pollohn d‘ anthropon iden astea kai noon egnoh,
vieler der Menschen sah Städte und Sinnesarten erkennen/verstehen,

πολλὰ δ᾽ ὅ γ᾽ ἐν πόντῳ πάθεν ἄλγεα ὃν κατὰ θυμόν,
polla d‘ ho g‘ en pontoh pathen algea hon kata thymon,
viel ja und er (dem) Meer litt Leiden den wegen Wut,

ἀρνύμενος ἥν τε ψυχὴν καὶ νόστον ἑταίρων.
arnymenos hän te psychän kai noston hetairohn.
gewonnen den der Atem/Leben und Heimkehr Kameraden.

ἀλλ᾽ οὐδ᾽ ὣς ἑτάρους ἐρρύσατο, ἱέμενός περ:
all‘ ud‘ hohs hetarus errysato, hiemenos per:
aber nicht die Gefährten rettete er gesendet denn:

αὐτῶν γὰρ σφετέρῃσιν ἀτασθαλίῃσιν ὄλοντο,
autohn gar spheteräsin atasthaliäsin olonto,
sie selbst nämlich eigene Dummheit untergingen,

νήπιοι, οἳ κατὰ βοῦς Ὑπερίονος Ἠελίοιο
näpioi, hoi kata bus Hyperionos Helioio
kindisch, die um Rinder Hyperions [Sohn] Helios

ἤσθιον: αὐτὰρ ὁ τοῖσιν ἀφείλετο νόστιμον ἦμαρ.
ästhion: autar ho toisin apheileto nostimon ämar.
aßen: obendrein der die beraubte der Heimkunft Tag.

τῶν ἁμόθεν γε, θεά, θύγατερ Διός, εἰπὲ καὶ ἡμῖν.
tohn hamothen ge, thea, thygater Dios, eipe kai hämin.
ein wenig dort wenigstens, Göttin, Tochter des Gottes, erzähle auch uns.

Text des Originals aus Homer: Odyssey, Book 1. Edited with an Introduction, Translation, Commentary, and Glossary by Simon Pulleyn. Oxford University Press 2019. Umschrift und Interlinearübersetzung gehen auf meine Kappe.

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