Verführerisch

Sonnigen Gemüts wie immer arbeite ich mich durch den Anfang der Endfassung und soll doch schon Ende November abgeben. 2022, nicht 2023. Wieder schaue ich fast jedes Wort nach, die habe ich für die Rohfassung alle schon mal nachgeschlagen, und das, obwohl ich die Bedeutung der meisten gut kenne.

Nur – ich kriege die Bedeutung in keinen sinnvollen Zusammenhang mit den Nachbarwörtern. Ich verstehe jedes Wort und weiß nicht, was gemeint ist.

Aber von vorn: Ich übersetze für den Berliner Guggolz-Verlag einen Roman von Janko Polić Kamov, der, posthum veröffentlicht, in Kroatien als literarischer Meilenstein gefeiert wird. Isušena kaljuža heißt er im Original, ausgetrocknetes Schlammloch, trockengelegter Sumpf – die wörtliche Übersetzung liefert keinen griffigen deutschen Titel.

Janko Polić (Kamov ist ein Beiname) schloss das Manuskript 1909 ab, ein Jahr später starb er. Mit 24. Als Gymnasiast wollte er ganz Kroatien in die Luft jagen (steht im kroatischen Wikipedia).

Ich habe es also mit einem Rebell und einem historischen Sprachzustand zu tun.

Um mal langsam zum Punkt zu kommen: Janko Polić Kamov findet Metaphern, die dem Erwartungshorizont total zuwiderlaufen. Er entwickelt eine Logik, die sich gegen geläufige Schlussfolgerungen wendet. Er baut sperrige, ungenießbare Sätze mit möglichst viel Ekelpotential, die er seinen Zeitgenossen ins Gesicht spuckt.

Aber so, dass Sprache und Romanhandlung einen poetischen und existentiellen Sog entfalten, dem wir uns kaum entziehen können. Oder wollen.

Ein – Rotzlöffel.

Und ich muss mich immerzu hüten, vor lauter Erleichterung und Stolz, dass ich endlich kapiert habe, was er meint, mit dem Zaunpfahl zu übersetzen.

PS. Den Gedankenstrich vor Rotzlöffel habe ich so gesetzt, wie er ihn eingesetzt hätte. Den Gedankenstrich im zweiten Absatz so, wie es mir entspricht. Irgendwo dazwischen liegt meine Arbeit.

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