Bin ich ein Zensor, wenn ich für Verlage ein Gutachten übernehme und das betreffende Werk nicht empfehle? Ja. Und nein. Ich bin ja nicht bei einer Behörde angestellt.
Zensiere ich, wenn ich übersetze, weil ich notwendigerweise interpretiere? Weil ich Romane, Sachbücher oder Essays stärker modifiziere, als es die Typen mit Rotstift in ihren Stasi-Büros je taten? Weil ich Prägungen mitbringe, in eine bestimmte Gesellschaft, eine Geschlechterrolle, ein zeitspezifisches Berufsethos etc. hineingewachsen bin? Zwinge ich das Original zwangsläufig in die Zwangsjacke von Zeitgeschmack, wirtschaftlichen Ertragserwartungen, persönlichen Voraussetzungen, hinter die der beste Hermeneutiker nicht zurück kann? Nüchtern betrachtet: Ja. Aber ist das Zensur?
Manipulation of Literature: Studies in Literary Translation heißt ein Sammelband, der 1985 die Diskussion über Zensur durch Übersetzung ins Rollen brachte. Darin ein Aufsatz von André Lefevere über Homer-Übersetzungen: Neoklassische Übersetzungen ließen alles Grobe, Abstoßende weg (tierische oder menschliche Eingeweide zum Beispiel). Das ging soweit, dass Leconte de Lisle noch einhundertfünfzig Jahr später für seine weniger empfindsame Übersetzung beschimpft wurde, er habe Homer verfälscht (vgl. Zahra Samareh, s.u., S. 22).
Im Unterschied zum bekannten italienischen Wortspiel traduttore=traditore meint die übersetzungstheoretische Debatte der 2000er Jahre mit Zensor nicht unbedingt etwas Negatives, den Übersetzenden kam als „agents of change“ im Ringen um eine postkoloniale, gendergerechte Sprache vielmehr eine zentrale Rolle zu. Piotr Kuhiwczak zeigt, dass die Hochkonjunktur der Zensurthematik in der Translationsforschung mit den politischen Umbrüche nach 1989 zusammenhängt (vgl. Samareh, S. 24): Nicht nur in Deutschland konnten Betroffene Einsicht in ihre Akte bei der Staatssicherheit nehmen. Zensur und staatliche Unterdrückung rückten in den Fokus der Öffentlichkeit und konnten retrospektiv diskutiert werden.
Wenn ein neues Schlagwort die Diskussion beherrscht, beginnt der Kampf um die Deutungshoheit. Die Tendenz, den Begriff auszuweiten – aber das ist doch auch Zensur! -, führt über kurz oder lang zu einer Überdehnung, und die zunächst erhellende Parallelisierung, aus der Erkenntnisfetzen aufblitzten, zerfasert in diffusem, konfusem Wortgeklingel.
Wie beim Malen: Mischt man Farben zu lange, wird aus knallbunt ein schmutzig-unansehnliches Braungrau, in dem alles verschwimmt.
Literatur
Theo Hermans (Hg.): The manipulation of literature : studies in literary translation. London [u.a.] : Croom Helm 1985 Zahra Samareh: Translation and censorship : an agent-oriented approach. Berlin: Frank & Timme 2018
Eiléan Ní Chuilleanáin, Cormac Ó Cuilleanáin, David Parris (Hg.): Translation and censorship : patterns of communication and interference. Dublin: Four Courts Press 2009