Übersetzen und Interesse

Lange wurde übersetzt wie gemalt, d.h., die Geschichte in die eigene Zeit verlegt. Bis tief ins 18. Jahrhundert kleideten sich die Heiligen auf ihren Tafelbildern stets nach der neuesten Mode.

Genauso drechselte Schaidenreissers Mentor Sätze wie ein gestandener Humanist, quasi mit dem Bierseidel vor sich, und Odysseus sah Rauch aus Kaminen aufsteigen, als wär er im 16. Jahrhundert und in München daheim (vgl. Zehetmeier 55, 177).

Im Kloster Corvey haben karolingische Fresken überdauert, die Odysseus zwischen Skylla und Charybdis zeigen: als wär er der Erzengel Michael oder der heilige Georg. Mit der Lanze attackiert er das hüfthundsköpfige Ungeheuer.

Skylla und Charybdis und die Story mit den Sirenen haben neben Homers Pauschalruhm offenbar als einzige das ganze Mittelalter hindurch die Erinnerung an Odysseus wachgehalten, weil sie sich als Allegorien eigneten: auf den heldenhaften Widerstand gegen sinnliche Einflüsterungen.

Wir sind heute auf anderen Pfaden unterwegs, wir wollen historische Texte nicht in die Gegenwart holen (oder jedenfalls nur soweit, dass sie dem heutigen Publikum noch Lesegenuss bereiten). Geschichtswissenschaft und Philologie geben uns ein Instrumentarium an die Hand, um ohne Erklärung unbegreifliche Passagen aufzudröseln und verständlich aufzubereiten.

Aber stimmt das so? Malen wir uns die Vergangenheit nicht eher treubunt an und greifen beherzt in die Mottenkiste der Sprache, wenn wir alte Texte übersetzen? Denn der historische Text sollte ja als solcher kenntlich bleiben.

Nietzsche spach in den Vorarbeiten zu Wir Philologen von einer Antinomie:

Man hat das Alterthum thatsächlich immer nur aus der Gegenwart verstanden – und soll nun die Gegenwart aus dem Alterthum verstehen?

Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente Anfang 1875-Ende 1879 Colli/Montinari (Hg.): Kritische Studienausgabe, dtv/de Gruyter ²1988 S. 31

Vielleicht verstehe ich Nietzsche da nun meinerseits falsch oder nicht richtig. Aber wenn ich ehrlich bin mit mir, sehe ich aus dem genannten, mit Mitteln der menschlichen Wahrnehmung nicht auflösbaren Widerspruch keinen Ausweg.

Was mich zu dieser Meinung bewegt, will ich mit einer Reihe von Fragen andeuten.

Übersetzen wir historische Texte so, dass wir uns in die historische Zeit, den historischen Raum hineinversetzen und mit angenehmem Schaudern die Fortschritte unserer Zeit genießen? Übersetzen wir so, dass wir nostalgisch die Verluste fühlen, mit denen unsere Zeit ihren Fortschritt (wenn es denn einer ist) bezahlt, einen Komfort, für den sie die Naturnähe, Unverbildetheit und Unmittelbarkeit früherer Jahrhunderte eintauschte? Übersetzen wir so, dass wir der überfeinerten Geschmacksbildung, der Raffinesse, den rauschenden Stoffmassen eines ancien regime nachspüren? Lassen wir die Sehnsucht nach der urwüchsigen Aufbruchstimmung des fin de siècle auf dem Montparnasse wiederaufleben? Interpolieren wir, sollten wir z.B. Briefe von (um nur einen herauszupicken) Gaugin übersetzen, die in den Debatten um Raubkunst verstärkte Skepsis gegen die pinselführenden Trittbrettfahrer des Kolonialismus?

Kurz: Glauben wir wirklich, wir könnten neutral übersetzen und Ausgangstexte in neue Worte kleiden, ohne ihre wahre Gestalt und Aussage zu verhüllen?

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