Von einer Hand

Samuel Certon hat seine Übersetzung der Odyssee zwei Mal publiziert: Das erste Mal 16o4 als Einzeltitel, das zweite Mal 1615 als Teil einer Homer-Gesamtausgabe. In der Vorrede betont er, dass er den ganzen Homer übersetzt habe und dieser damit aus einem Guss – d’un seul pinceau – vorliege.

Von Certons Leben, seiner Persönlichkeit ist wenig überliefert, nicht einmal die exakten Lebensdaten: 1552 im Loiretal geboren, irgendwann nach 1620 gestorben. Hugenotte, d.h. Calvinist. Er hat vier Bürgerkriege und die Bartholomäusnacht er- und überlebt, ist trotzdem seinem Glauben treu geblieben, anders als der König, Henri IV.. dem er seine Übersetzung widmete und in dessen Diensten er stand: Auf dem Titelblatt der Ausgabe von 1604 nennt er sich Conseiller et Secretaire des finances de sa Maiesté en sa maison et couronne de Navarre, et Secretaire de sa chambre, also so etwas wie Finanzberater und -sekretär am Hof von Navarra sowie persönlicher Sekretär seiner Majestät.

Später zog sich Certon in seine Heimat zurück, korrespondierte nur noch mit wenigen Freunden, die wie er Prostestanten waren, und fand die Zeit, um alles zu übersetzen, was man damals Homer zuschrieb. Seine Titel hat er behalten, nennt sich 1615 immer noch königlicher Berater, Notar und Sekretär. Die Gesamtausgabe widmet er Louis XIII, der dem ermordeten Henri IV. 1610 auf den Thron folgte.

Christiane Deloince-Louette (Literaturangabe s.u., der Beitrag stützt sich zum überwiegenden Teil auf ihren Aufsatz) argumentiert mit guten Gründen, seine Odyssee sei eine protestantische Übersetzung. Als solche stieß sie auf Ablehnung, aber nicht aus religiösen Gründen.

Die Zeitgenossen hätten das Epos gern etwas gefälliger gehabt, heroischer, rhetorischer, kürzer. Certons Homer, so dekretiert Abbé Goujet noch 1715, sei schrecklich zu lesen, schrecklich langweilig vor allem, man käme aus dem Gähnen gar nicht mehr heraus. Und noch im 19. Jahrhundert hieß es, das Französisch der Renaissance sei nicht reif gewesen für Heldenepen und große Leidenschaft, Certons Übersetzung höchstens von literaturhistorischem Wert.

Woran haben sich die Kritiker so gestoßen?

Certon hat sich mit Bedacht (und Augenmaß) an die Vorlage gehalten, weder gekürzt noch dazugeschrieben noch Realien dem Horizont der Leserschaft angepasst. Namen transkribiert er, behält sie ansonsten aber bei. Die Epitetha (Eos, die rosenfingrige etc.) überträgt er in voller Länge. Wiederkehrende Formeln (bei Voß z.B.: Und nachdem die Begierde des Tranks und der Speise gestillt war …) bleiben bei Certon wiederkehrende Formeln, allerdings nicht stereotyp, sondern leicht abgewandelt.

Certon lieferte keinen französischen Homer, sondern einen Homer auf Französisch.

Wird in der Odyssee geschildert, wie Odysseus‘ Gefährten ein Tier schlachten und ihr Fleisch auf Spieße ziehen, überträgt er das mit allen blutigen Details. In der Ilias scheut er nicht vor grausamen Details im Kriegsgeschehen zurück. Keine Konzession an den Zeitgeschmack.

Zur Strafe wurde er kaum gelesen und nie nachgedruckt.

Der Respekt vor dem Text Homers, so weit wie möglich in Wortwahl wie Syntax, das charakterisiert die Übersetzung von Samuel Certon, der geschickt die Vorgaben durch den Alexandriner mit homerischer Treue versöhnt.

Christiane Deloince-Louette: L’Homère de Salomon Certon: Une Traduction ‚protestante‘. In: Silvia D’Amico, Sabine Lardon (Hg.): Homère en Europe à la Renaissance : traductions et réécritures, Chambéry : Université de Savoie Mont Blanc 2017, S. 46, aus dem Französischen von mir

Mehr vom Alexandriner nächsten Freitag …

Aber was hat die Tatsache, dass Certon zu den Hugenotten gehörte, mit seiner Übersetzung zu tun? Philipp Melanchthon zeigt seine Graecophilie bereits im Namen, denn eigentlich heißt er Schwartzerdt, Melanchthon heißt dasselbe, nur eben auf Griechisch. Das Neue Testament, das die Grundlage für die christlichen Konfessionen (und nur für sie!) ist, ist im Urtext Griechisch, und mit der neuen Hinwendung zum Wort, die Luthers Mitstreiter mit- und weitergetragen hat, stieg mit der Wertschätzung des Griechischen auch der Respekt vor der Form, in die ein Autor seine Geschichte gepackt hat.

Dieser Gedanke lag allen Übersetzern, die ich bisher besprochen habe, fern: Ihnen ging es um die Story.

Also ist es vor allem die Hinwendung zum Ursprungstext und die Treue zum Wort, die den hugenottischen Certon gegen den Zeitgeist dazu bringt, die majestätische Einfachheit eines Epos aus der Frühzeit der Literatur zu sehen, zu schätzen und beizubehalten. Noch einmal Christiane Deloince-Louette:

Wenn Certons Übersetzung „protestantisch“ ist, dann weil sie gegen den herrschenden Geschmack die Treue zu Homer und zu seinem einfachen, derben Stil verteidigt.“

Christiane Deloince-Louette, ebenda, S. 58, aus dem Französischen von mir

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