Francesco Griffolini übersetzte, wie geschildert, im Auftrag von Papst Pius II. Homers Odyssee. Die zehn Zeilen der Anrufung habe ich zitiert und, weil händisch abgetippt, noch im Sinn. Und stolpere über ein historisches, im Fundus der Zentralbibliothek Zürich online einsehbares Dokument:
Bevor sich die Ästhetik des Buchdrucks selbstständig weiterentwickelte, imitierten die Verleger mit großem Aufwand handgeschriebene Codices, daher die durch Überstriche kenntlichen Abkürzungen, die ich in aller Fehleranfälligkeit im Folgenden auflöse:
Dic mihi musa virum pericula exercitatum: qui post sacram urbem ilium dirutam longis erroribus et civitates multas vidit et hominum mentes cognovit: diuque mari iactatus: ut se et socios in patriam reduceret: multos anxios labores perpessus est. Non tamen in illis liberandis suo satisfecit desiderio. Suis enim illi in deos periere flagitijs. Quippe qui stulti desuper currentis solis boves comederunt. Hinc ille reditum eis abstulit, Horum tu dea Iovis filia causam et nobis refer.
Abgesehen von Groß- und Kleinschreibung sowie der Zeichensetzung unterscheiden sich allein die hervorgehobenen Stellen (und auch sie nur minimal: perquam exercitum, anxius) von Griffolinos Übersetzung! Georg Übelin, gemäß den Gepflogenheiten seiner Zeit auch Georgius Maxillus Uebellin, geboren im badischen Offenburg um 1460, gestorben um 1522, Jurist und Sekretär Wilhelm von Honsteins, übernimmt Griffolinos Odyssea, gibt sich als deren Übersetzer aus.
Die unter dem Namen des Gregor (am Schluß: Georg) Maxillus ausgegangene Übersetzung stammt wahrscheinlich nicht von diesem, sondern wurde von ihm nur mit Widmung und Marginalien versehen. Ob der eigentliche Übersetzer Francesco Aretino […] ist, hat für uns keine Bedeutung.
Winfried Zehetmeier: Simon Minervius Schaidenreisser Leben und Schriften. Dissertation, Ludwig-Maximilians-Universität, München 1961, S. 45
Ein dreister Raub geistigen Eigentums, begangen von einem ehrbaren Bürger und ausgebildeten Juristen – das Copyright war 1510 noch in weiter Ferne. Schuldbewusst wird er nicht gewesen sein. Griffolini hatte jenseits der Alpen gelebt und war sowieso tot, er ist um 1465 in Neapel vom Pferd gefallen.
Die Geschichte geht noch weiter: Nach Übelins lateinischer „Übersetzung“ fertigte der Münchner Stadtschreiber Simon Schaidenreisser (ca. 1497-1572, nach einer anderen Quelle 1505-1573) die erste und für die nächsten zwei Jahrhunderte einzige vollständige deutsche Übersetzung an. 1537 erschien sie bei Alexander Weißenhorn in Augsburg:
Odyssea,|| Das seind die aller zierlichsten vnd || lustigsten vier vnd zwantzig bücher des eltisten kunst-||reichesten Vatters aller Poeten Homeri/ von der zehen järigen irrfart || des weltweisen Kriechischen Fürstens Vlyssis/ beschriben/ vnnd erst || durch Maister Simon Schaidenreisser/ genant Mineruium/ diser || zeit der Fürstlichen statt München stattschreiber/ mit fleiß zu Teütsch || tranßferiert/ …
Auch die Idee, dass man besser nicht Übersetzungen von Übersetzungen anfertigt, hatte sich noch nicht durchgesetzt …
Wer noch ein Detail zu Übelins Leben erfahren möchte: Im Ulmer Stadtarchiv lagert ein Dokument, demzufolge Margarete Nogger ihn als Erben des Präsentationsrechts auf der von ihr gestifteten Ewigen Messe für Heinrich Nogger einsetzte. Was auch immer das heißt.