Mitte des 14. Jahrhunderts setzte (wieder einmal) eine Rückbesinnung auf die Antike ein: die Renaissance beginnt. Sie blieb nicht ohne Rückwirkung auf Übersetzungen.
Was ich im Folgenden ausbreite, wiedergegeben mit meinen Worten, inhaltlich jedoch abhängig, verdanke ich der Griffolino-Edition von Bernd Schneider und Christina Meckelnborg, v.a. ihrer Einleitung. Siehe Literaturhinweis am Ende des Beitrags.
Die Humanisten wollten das Latein der Antike oder genauer das eines Cäsar wiederbeleben. Küchenlatein, also das von den gesprochenen Sprachen stark beeinflusste Latein ihrer Zeit empfanden sie als verderbt und den damals gültigen Übersetzungsstil des verbum de verbo (Wort für Wort) als unelegant. Sie hoben Ciceros Bekenntnis zur eigenen Sprache wieder auf den Schild.
Das heißt: Die Idealvorstellung der Zielsprache – Latein – verschiebt sich ebenso wie die Idealvorstellung des Übersetzens. Was bleibt, ist die Selbstverständlichkeit, mit der ins Lateinische übersetzt wird.
Wohl schrieb Dante seine Commedia, Petrarca seine Canzoniere, Boccaccio die Novellen des Decamerone auf Italienisch. Aber eine Übersetzung von Homers Epen sollte natürlich lateinisch sein. Das war durchs ganze Mittelalter hindurch die Lingua franca der Intellektuellen Europas und blieb es noch lange.
„Typisch Renaissance“ hingegen ist das starke Interesse an antiken Autoren. Boccaccio lernte deswegen Griechisch, sorgte dafür, dass in Florenz der erste Griechisch-Lehrstuhl an einer westeuropäischen Universität eingerichtet wurde. Petrarca nutzte seine Bekanntschaft mit Nicola Sigèro, dem byzantinischen Gesandten beim Papst in Avignon, um eine Handschrift der Odyssee zu ergattern, und hatte dann das Problem, dass er sie nicht lesen konnte – mangels Griechischkenntnissen, damals der Normalfall auch in gebildeten Kreisen.
Also heuerten sie einen Übersetzer an.
1365, Leonzio Pilato war um die 55 Jahre alt, geriet sein Schiff auf dem Rückweg von Konstantinopel nach Venedig irgendwo in der Adria in einen Sturm, den er nicht überlebte, während die beiden griechischen Handschriften in seinem Gepäck Petrarca unversehrt ausgehändigt wurden.
Petrarca und Boccaccio waren, so viel verrät ihr Briefwechsel, nicht mehr gut auf Leontius Pilatus (so die latinisierte Form des Namens) zu sprechen, fanden ihn mürrisch und verwahrlost und seine Übersetzung grässlich. Gemeinsam hatten sie ihn mit der Übersetzung betraut, diese finanziert und ihren Einfluss genutzt, damit er Griechisch an der Universität von Florenz unterrichten durfte. Boccaccio beherbergte ihn sogar längere Zeit bei sich.
Nur offenbar wich die anfängliche Begeisterung, dass Homer für sie nicht länger stumm blieb, der Fassungslosigkeit über die sprachliche Monströsität, die selbst „dem redegewandtesten Dichter […] beinah die Fähigkeit zu sprechen“ nahm. So formulierte es Francesco Griffolini ein Jahrhundert später in der Vorrede zu seiner Übersetzung der Odyssee, in der er dem Auftraggeber, Papst Pius II., dankt.
Einhundert Jahre liegen also zwischen folgenden Fassungen:
Virum mihi pande, Musa, multimodum, qui valde multum
Erravit, ex quo Troie sacram civitatem depredatus fuit;
Multorum hominum vidit urbes et intellectum novit,
Multas autem hic in ponto passus fuit angustias proprio in animo,
Redimens propriam animam et reditum sociorum.
Sed non sic socios salvavit desiderans licet;
Ipsorum enim propriis stultitiis perierunt,
Stolidi, qui per boves Hyperionis solis
Commederunt; nam hic istis abstulit reditus diem.
Hec undecumque, dea, filia Iovis, dic et nobis.
(Leonzio Pilato)
Dic mihi Musa virum perquam exercitum, qui post sacram urbem Ilium dirutam longis erroribus et civitates multas vidit et hominum mentes cognovit diuque mari iactatus, ut se et socios in patriam reduceret, multos anxius lobares perpessus est. Non tamen in illis liberandis suo satisfecit desiderio; suis enim illi in deos periere flagitiis, quippe qui stulti desuper currentis Solis boves comederunt. Hinc ille reditum eis abstulit. Horum tu, dea, Iovis filia, causam et nobis refer.
(Francesco Griffolini)
Während sich Leonzio (wie der Vergleich mit der griechischen Fassung zeigt) genau an Wortstellung, Zeilenfall, Zeichensetzung etc. hält, geht Francesco schon auf den ersten flüchtigen Blick freier mit der Vorlage um: Er gibt die Versform auf und überträgt das Epos als Prosatext.
Das entspricht seinem Hauptanliegen – den Inhalt sprachlich elegant übertragen. Die stilistischen Besonderheiten der Vorlage – u.a. die für den mündlichen Vortrag hilfreichen stereotypen Wendungen, schnörkelige Götterbeschreibungen, schmückende Adjektive, zur Formel geronnene Verse – kürzt er radikal, lässt sie weg, reduziert auf die Fakten.
Er interessiert sich für die Story, nicht für ihre sprachliche Einkleidung. Wenn bei Homer (oder wer immer die Geschichten aufgeschrieben hat) die frühgeborene, rosenfingrige Eos wie jeden Morgen ihre Bahn antritt, bricht Griffolino das gern mal auf ein lapidares „frühmorgens“ herunter.
Bei Leonzio bleibt hingegen die rhetorische Struktur sichtbar: … multimodum … multum Multorum … Multas … etc. Er nimmt sich zurück, verfolgt keinen stilistischen Anspruch, will nicht glänzen, sondern überträgt, was er vorfindet. Die neumodischen Vorstellungen von gutem Latein fochten ihn nicht an.
Seine Arbeit strahlte trotzdem aus. Spätere Übersetzer nutzten sie wie einen Steinbruch – etliche der neueren Odyssee-Übersetzungen beruhen offensichtlich auf Leonzios Textvorlage.
Was übrigens nicht auf Griffolinis Version zutrifft, der hat selbstständig gearbeitet. Geboren 1420 in Arezzo, mit elf Jahren Halbwaise – der Vater wurde als Verschwörer 1431 in Florenz hingerichtet -, bekam Francesco dank seiner Mutter im Exil, in Ferrara, eine gute Schulbildung bei einem Begründer des Ciceronianismo und studierte Griechisch bei einem der, was die Wiederentdeckung griechischer Werke betraf, führenden Humanisten: Theodoros Gazes aus Thessaloniki.
Möglich, dass Leonzio Pilato anders als Francesco griechischer Muttersprachler war, schließlich nennt er Thessalien seine Heimat. Obwohl er ganz sicher aus Kalabrien kommt. Das rekonstruiert Paolo Falzone aus den kalabresischen Dialektwörtern in Leonzios Kommentaren zu Homer. Aber das eine schließt das andere ja nicht aus.
Vielleicht also war er nicht nur dem mittelalterlichen verbum de verbo, sondern auch dem Zungenschlag seiner Kindheit eng verbunden. Vielleicht siegte beim Übersetzen aus der vertrauten in die angelernte Sprache die innere Nähe zur vertrauten. Francesco übersetzte hingegen aus der einen in die andere Fremdsprache, die in seinen Augen beide das Prädikat „kulturell von unschätzbarem Wert“ gehabt haben dürften und kindlich-innerliche Nähe ausschlossen.
Aber das ist wilde Spekulation, die nicht von meiner Quelle gedeckt wird:
Literatur
Odyssea Homeri a Francisco Griffolino Aretino in Latinum translata. Die lateinische Odyssee-Übersetzung des Francesco Griffolini, eingel. u. hrsg. von Bernd Schneider u. Christina Meckelnborg, Leiden/Boston: Brill 2011