Der Sonnen Viech

Er hat einen Logenplatz im Rara-Lesesaal der Staatsbibliothek unter den Linden, dem Schaidenreisser Simon sein Odysseus. Will heißen, er sitzt weit abgeschlagen neben Melanchthon ganz oben im Rang und verdöst in Weidlings Neudruck sein Nachleben. Dabei liest er sich richtig lustig.

Simon Schaidenreisser: Homeri Odyssea mit hohen fleiß erstlich tranßferiert, in: Weidling s.u. S. 1

Da ich die hochgestellten Es und Os sowieso nicht reproduzieren kann, übertrage ich den Text aus dem 16. Jahrhundert +/- in heutiges Deutsch:

Göttin des G’sangs, dich ruf ich an,
Hilf preisen mir den teuren Mann,
Der Land und Städt‘ durchreiset hat,
Geübt dazu manch g’fährlich Tat,
Da er sein weislose Gefährt
Aus Nöten gern errettet hätt,
Welche doch all verdorben sind,
Faulend in Regen, Schnee und Wind,
Darum dass sie mutwilliglich
Geraubet han der Sonnen Viech.

weislose Gefährt = dumme Kameraden. Der Rest dürfte auch ohne Räubertreppchen verständlich sein.

Eine Art epischer Klimaverschiebung: Statt in der Sonne zu verdorren, faulen Odysseus‘ Gefährten in Regen, Schnee und Wind, weil sie sich nicht entblödeten, die Rinder des Sonnengotts zu schlachten. Es bedarf nicht viel Fantasie, warum die Übersetzung vor späteren Kritikern keine Gnade fand.

Aber damals war alles noch offen. Deutsch lag mit seiner Literatursprache in den Wehen. Schaidenreissers Zeitgenossen jammern unisono über das ungelenke – unzierliche, wie sie es nennen – Idiom, von dem sie noch nicht genau wissen, nur hoffen, ob es sich je für poetische Texte eignen wird.

In der Zeit gab Luther mit seiner Bibelübersetzung den Impuls, sich von vielen Mundarten auf eine gemeinsame Hochsprache zu einigen, und Feld-Wald-Wiesen-Humanisten wie Schaidenreisser trampeln mit ihren volkssprachlichen Schriften die ersten zaghaften Pfade ins hohe Gras.

Er zeigt uns, der Schaidenreisser Simon, wie breit und bunt und manniglich das Deutsche einst aufgestellt war, die grobe Sprache, die sie alle beklagen, die da wie behext auf das Latein als Maß aller Dinge starrten.

Eigentlich schad drum. Ich jedenfalls finde es ausgesprochen charmant, statt der Muse die Göttin des Gesangs anzurufen.

Und der Vers „darum dass sie mutwilliglich / geraubet han der Sonnen Viech“ ist einfach köstlich.

Schade nur, dass das Proömium an der Stelle abbricht. Ab da geht es in Prosa weiter. Es liegt, schreibt Weidling, an Scheidenreissers Vorlage, die an dieser Stelle eindeutig von Raffaello Maffei, genannt Volterrano, stammt.

Blick von Schaidenreissers Loge auf die Arbeitsplätze im Rara-Lesesaal der Staatsbibliothek, Berlin, Unter den Linden

Übrigens sind die Reime kunstvoller, als sie uns erscheinen mögen. Es sind immer acht Silben je Zeile. Immer. Es kommt nicht auf die Betonung, Akzentuierung oder Länge der Silben an, nur paarweise Reime müssen sein: an / man, hat / That, Gefertt / het, synd / Wind, …lich / Viech.

Damit handelt es sich um strenge Knittelverse, und die haben nichts mit Goethe zu tun. Der verschaffte dem Knittelvers mit seinem Faust zwar ein Comeback, aber entsprechend der Verslehre des 18. und 19. Jahrhunderts mit ihren Hebungen und Senkungen, und das Reimschema durfte auch differenzierter ausfallen.

Zu Schaidenreissers Lebzeiten war der Knittelvers für alles, was gebundene Rede war, aber nicht gesungen wurde, der Goldstandard. Heute taugt er allenfalls noch für Büttenreden.

Aber dafür kann ja der Schaidenreisser Simon nichts.

Literatur

Schaidenreissers Odyssea. Neudruck der Ausgabe 1537, hg. von Friedrich Weidling. Leipzig: Avenarius 1911

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