Monsterschau

Janko Polić Kamov: Austrocknen.

Roman. Rund 450 Seiten. Plus Nachwort.

Drei Teile: Am Boden, In der Weite, In die Höhe. Also auch drei Richtungen: punktuell, vertikal, horizontal; drei Dimensionen: Länge, Breite, Höhe. Jeder Teil +/- halb so lang wie der vorhergehende: ungefähr 200:100:50 Seiten. Ingredienz jedes Teils: eine Auslandsreise.

Ein Held, erst in der dritten, dann in der ersten Person Singular. Ein junger, kranker, aufbegehrender Mann, in dem man schnell ein Selbstporträt des Autors vermutet – aber selbst wenn Arsen Toplak 1:1 Janko Polić wäre, was wäre mit dieser Erkenntnis gewonnen? Wen interessierte Janko Polić, hätte er sich mit seinem Helden nicht auf eine andere als die rein autobiografische Ebene gehoben? Die Zeit wäre längst über ihn hinweggegangen und hätte dicke ausgereicht, um ihn im Orkus des Vergessens verschwinden zu lassen. Er starb 1910, mit 24 Jahren.

Im Roman unzählige Themen: Kindesmissbrauch, Inzest, Sadismus, Homosexualität, Prostitution, unglückliche Ehen, glückliche Ehen, der Tod der Schwester, des Vaters, der Mutter, der eigene. Heuchelei. Die politische Lage, das nationale Erwachen der Kroaten, Demonstrationen gegen den ungarischen Statthalter der Habsburger in Zagreb, Demonstrationen gegen Kindesmissbrauch von Klerikern in Italien. Die soziale Frage, Rechte für Arbeiter, die Frauenfrage. Freundschaft, Konkurrenz in der Freundschaft, Freundschaft, die in Hass umzuschlagen droht, Freundschaft, die sich ihrer selbst nicht gewiss ist, Kunst, Malerei, Tiepolo, Tintoretto, Tizian. Van Dyck und ein paar andere, deren Name nicht mit T anfängt. Selbsthass. Schriftstellerische Gehversuche. Mondaufgänge. Die eigene Entwicklung – und

Alkohol. Zigaretten. Die Aufzählung ist unvollständig.

Denn ich – bin nicht ich.

Janko Polić Kamov: Austrocknen. Berlin: Guggolz 2024, S. 456

Eine Handlung, ein Plot? Na ja. Eine Art Biografie. Ohne kontinuierliches Voranschreiten. Obwohl – in gewisser Weise schon auch. Jedenfalls zerlegt sich der Held im Lauf der Entwicklung immer effizienter in seine psychischen Einzelteile, kommt mit der psychologischen Durchdringung seines Verhaltens immer tiefer, bedenkt Vorfälle neu, die er im ersten Teil schilderte, interpretiert sie: Polić bringt den inneren Dialog, der die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit begleitet, in den Roman.

Also ein desillusionierter Entwicklungsroman. Anfangs fast klassisch erzählt von einem scheinbar allwissenden, auktorialen Erzähler, mit Rückblenden in Kindheit und Schulzeit, Beschreibung der Familie, der Freunde, eingestreute Dramolette, die einerseits die Ambitionen der Hauptfigur illustrieren, Schriftsteller zu werden, und zugleich eingekapselt Einzelthemen beleuchten, etwa den Einfluss des Irredentismus auf kroatische Unabhängigkeitsbestrebungen.

Gleich zu Beginn mobilisiert Polić die geballte Wucht seiner sprachlichen Mittel, inszeniert eine Frühlingsszene als Vorbote eines langen Sterbens. Im weiteren Verlauf überhöht er seine Geschichte immer wieder mit lyrischen Passagen, kurzen, einige Sätze langen, eine halbe Seite langen Prosapoemen mit gewaltiger Sogkraft und einem Wahnsinnsrhythmus. Und er seziert die Familienverhältnisse mit psychologischer Schärfe.

Der erste Teil, „Am Boden“, zerfällt in zwei Hälften, zwischen denen sich der Abgrund auftut, der Absturz nach einem Abend mit viel zu viel Alkohol und viel zu viel Emotion, ein physischer und psychischer Zusammenbruch, von dem sich die Hauptfigur nur mühsam und mit sehr viel Selbstreflexion erholt. Nur durch diesen Zusammenbruch darf der Held des Romans, Arsen Toplak, mit der Erlaubnis und finanziellen Unterstützung seiner Familie ins Ausland reisen. Auf sich gestellt reisen. Sich erholen, sich beweisen. Er kehrt nur zurück, um so schnell als möglich wieder wegzufahren.

Und da wechselt Janko Polić von der dritten in die erste Person Singular, der pseudoauktoriale Erzähler hat ausgedient, jetzt ist sein Held selbstbewusst genug, um selbst zu erzählen. Er fährt nach Rom mit dem festen Vorsatz, sich auch finanziell auf eigene Füße zu stellen, wird aber von einer weiteren Krankheit ausgebremst.

Und in der Höhe gipfelt der Roman dann im Nichts. „Ihr bedeutet mir alles“, steht da kurz vor Schluss, und weiter: „Das heißt: Nichts.“

Noch eins zu den Stilmitteln: Es dominieren paradoxe Arabesken und ein selbstreferentielles Weiterspinnen und lyrische Kakophonie und, über weite Strecken, ein lakonisches Erzählen.

So viel zur Einstimmung. Übermorgen die Buchpremiere auf der Leipziger Buchmesse 15h im Traduki-Kafana.

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