Ein schwieriges, ein kurzes Leben: Giacomo Leopardi, 1798 geboren, 1837 gestorben, adelig und bitterarm, in vielen Bereichen Autodidakt, wohl auch, weil er sich der repressiven, erzkonservativen Atmosphäre seines Elternhauses entzog, indem er sich in der Bibliothek seines Vaters vergrub. Dort brachte er sich (mit 15!) selbst Griechisch bei, und bereits im Frühjahr 1816 übertrug er den ersten Gesang der Odyssee.
Eine traditionelle Unterrichtsmethode für klassische Sprachen: antike Texte übersetzen. Normalerweise landen solche Übungen nicht in der Druckerei.
Giacomos Übersetzung schon. Sie erschien in zwei Teilen, am 30. Juni und 15. Juli 1816, im Mailänder Spettatore italiano : ovvero mescolanze di poesia, di filosofia, di novelle, di letteratura, di teatro, di belle arti e di bibliografia (Der italienische Beobachter: oder vermischte Beiträge aus Poesie, Philosophie, Prosa, Literatur, Theater, bildender Kunst und Bibliografie).
Der noch nicht 20-jährige Übersetzer ließ über das Verlagshaus Exemplare an etliche Persönlichkeiten schicken. Und bekam Resonanz: Der Übersetzer der Illias, Vinzenzo Monti, lobte sie als makellos, zu Pietro Giordani entwickelte sich zunächst ein freundlicher Briefwechsel und später eine enge Freundschaft.
Für Enrico Luigi Rossi lassen Leopardis übersetzerische Arbeiten erkennen, wie und woran er seinen Stil schulte und wie sich seine schriftstellerische Herangehensweise herausbildete: Diese ersten Gehversuche seien von einem Heidenrespekt vor der Poesie geprägt gewesen.
Die Übersetzung eines großen Werks als Lektion: Nicht nur, um die Sprache zu lernen, vielmehr – übersetzen heißt intensiver als andere zu lesen – als Schreibschule.
So sah es auch der angehende Dichter: „Natürlich fehlt es mir nicht an Fantasie, aber erst nachdem ich mehrere griechische Dichter gelesen hatte, verstand ich mich selbst als Dichter“, notierte Giacomo Leopardi, nachzulesen im Zibaldone di pensieri, einer Art Gedanken-Tagebuch. Es wurde 1898 posthum gedruckt.
L’uom dal saggio avvisar cantami, o Diva,
Che con diverso error, poi che la sacra
Ilio distrusse, le città di molti
Popoli vide ed i costumi apprese.
In suo cuore egli pur di molti affani
Nel pelago soffri mentre cercava
A sé la vita, ed ai compagni suoi
Comperare il ritorno. E pur nessuno,
Ben ch’il bramasse, ne salvò! Periro
Tutti per lor follia, stolti! che i buoi
Mangiàr del sole eccelso: ei del ritorno
Lor tolse il dì. Figlia di Giove, alquanto
Dinne di questi casi ancora a noi.
Literatur
Enrico Luigi Rossi In: ders. (Hg.): L’epica classica nelle traduzioni di Caro, Dolce, Pindemonte, Monti, Foscolo, Leopardi, Pascoli e altri. Roma: Istituto poligrafico e zecca dello stato 2003, S. 1045ff
PS.: Nietzsche nannte Leopardi „das moderne Ideal eines Philologen“ und den „vielleicht größte[n] Stilisten des Jahrhunderts“ (KSA VIII 22, 35). So steht es stichpunktartig zwischen anderen Einfällen und Exzerpten für eine nie veröffentlichte Unzeitgemäße Betrachtung, die den Titel Wir Philologen tragen sollte. In einer veröffentlichten Unzeitgemäßen Betrachtung – Richard Wagner in Bayreuth – klingt das ein wenig anders. Auch hier erscheint Leopardi als ein Großer, aber als ein großer Nachzügler, als letztes Aufbäumen einer untergehenden Kultur, als letzer italienischer Philologen-Poet (KSA I 503).