Ich bin in der Überarbeitungsphase meiner Übersetzung von Jergovićs Neufassung seines Erzählbandes Sarajevo Marlboro. Das heißt, ich muss Farbe bekennen, mich für eine Version entscheiden. Nicht sofort, aber mit herannahendem Abgabetermin immer dringlicher.
Farbe bekennen fällt mir umso leichter, je sicherer ich mir bin, den Ton getroffen zu haben. Die Erzählstimme. Miljenko Jergović ist ein begnadeter Erzähler. Er hat viele Stimmen. Eine kommt so selbstverständlich und scheinbar umgangssprachlich daher wie die andere, aber jede ein bisschen anders gefärbt.
Jergovićs Sprache ist eine Kunstsprache, so wie auch seine autobiografisch daherkommenden Berichte die Berichte einer Kunstfigur sind. Auch deswegen brechen die Berichte an einer entscheidenden Stelle ab und überlassen dem oder der, der oder die es liest, worauf er wohl hinauswill. Warum, wird nicht immer klar.
Auch wir lassen im Gespräch etwas ungesagt, weil wir uns, als wir zu erzählen anfingen, selbst nicht darüber im Klaren waren, worauf es hinausläuft, und verstummen in dem Moment, in dem uns das vors innere Auge tritt. Meistens jedoch erzählen wir nicht zu Ende, weil das Gespräch längst bei anderen Themen ist, weil ein Gespräch kein Monolog ist. Dann hat der Abbruch, das In-der-Luft-hängen-Lassen des Endes keine schweren Konnotationen.
Jergovićs Erzählungen sind Monologe oder Scheindialoge. Jede Geschichte wird von jemandem erzählt, der dabei war. Auch in den Geschichten, in denen er selbst, der Autor, auftritt. Und im Unterschied zu der ersten Fassung von Sarajevo Marlboro fließt in die Geschichten expressis verbis ein, dass dies im Rückblick, aus der Distanz von etlichen Jahren geschieht.
Wenn er als Autor auftritt, wendet er sich an seine Leserschaft. Wenn er andere erzählen lässt, wenden sich diese an einen Zuhörer, an eine konkret gedachte Person, die neben ihnen sitzt. Und der Erzählton richtet sich nach diesem Gegenüber. So, wie Leute eben erzählen. Bloß – kunstvoll, raffiniert – in eine lesbare Form gebracht.
Und das, um die Kurve zu dem zu kriegen, weswegen ich diesen Beitrag anfing, ist für mich als Übersetzerin Schwerstarbeit. Je schwereloser die kolloquiale Leichtfüßigkeit seiner Stimmen, desto schwerer.
Nicht nur wegen des Lokalkolorits, auch weil verschriftlichter Umgangssprache oft etwas Gewollt-Staksiges anhaftet. Das kriege ich erst weg, wenn ich verstanden habe, wo ich gegen den Wortlaut „verstoßen“ darf und wann ich die Wortwahl des Originals unbedingt beibehalten muss.
Eben wenn ich den Ton habe. Das ist nur eine Chiffre für etwas, das sich schwer bis gar nicht in Worte fassen lässt. Aber vielleicht lässt ja ein Beispiel ahnen, was ich meine.
Miris je gadan i privlačan.
Der Geruch ist ekelhaft und anziehend.Od njega me podiđu trnci, uživam u njegovoj gadnoći.
Originalzitat aus Miljenko Jergović: Trojica za Kartal. Sarajevski Marlboro remastered. Zagreb: Bodoni 2022, S. 9
Er macht mir Gänsehaut, ich schwelge in seiner Ekelhaftigkeit.
Davon kriege ich Gänsehaut, es ist ein Genuss.
Er macht mich schaudern, das genieße ich.
Er jagt mir einen Schauder über den Rücken, und er bereitet mir Genuss.
Ich könnte noch viele Varianten anführen. Es gibt unzählige Möglichkeiten, und das gilt für jeden einzelnen Satz, und die ganze Konstellation verschiebt sich mit der Entscheidung für eine Möglichkeit. Sie schließt für künftige Sätze Möglichkeiten aus und öffnet das Feld in eine bestimmte Richtung.
Deswegen ist jeder Anfang so schwer und das Ende so leicht.
PS.: Das Motiv, dass einen etwas gleichzeitig anwidert und reizt, wird in einer der späteren Geschichten wieder aufgegriffen.