Sine

Eine Lehrerin spricht ehemalige Schüler und Schülerinnen nach vielen Jahren nicht mit ihren Namen, sondern mit Sine moj! an – die Namen hat sie sich vor dreißig Jahren schon nicht merken können, Gesichter hingegen prägen sich ihr gut ein.

Sine moj heißt so viel wie mein Sohn. Wir sprechen von einer patriarchalisch geprägten Umgebung, natürlich. Ein Sohn wurde mit mehr Zärtlichkeit bedacht als eine Tochter. Die Wertschätzung für Mädchen hat sich erhöht, mit der kuriosen Folge, dass sie – zärtlich – mein Sohn genannt werden.

Das ist kein Einzelphänomen, sondern weit verbreitet. Aber hierzulande nicht bekannt.

Wenn ich nun sine moj mit mein Sohn ohne weiteren Klimmzug übersetze, hält meine Leserschaft die Lehrerin für tütteliger als sie ist.

Es ist nicht die einzige Geschichte in Miljenko Jergovićs Das verrückte Herz. Sarajevo Marlboro remastered, in der ich dieses Problem habe, mindestens in dreien kommt „Sine moj“ vor, einmal sogar ziemlich markiert, regelrecht mit Erläuterungen.

Aber das ist etliche Erzählungen später, die einzelnen Stellen liegen relativ weit auseinander. Kann ich darauf vertrauen, dass LeserInnen die Verbindung ziehen?

Oder – aber nein. Es gibt kein Äquivalent im Deutschen. Nicht, dass ich wüsste.

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