Dieser Beitrag verdankt sich der Lektüre von Gilles Cléments Essay Gärten, Landschaft und das Genie der Natur. Vom ökologischen Denken. Aus dem Französischen von Brita Reimers. Berlin: Matthes & Seitz ³2023 (und den Hinweis auf das Büchlein verdanke ich Friederike Graben, mit der ich die Leidenschaft fürs Gärtnern teile).
Er fällt ein bisschen aus dem Rahmen meiner sonstigen Blogbeiträge, denn mit Übersetzungen hat er nur dann zu tun, wenn man den Begriff inhaltlich sehr erweitert, mit Kunst schon mehr (was sich hoffentlich selbst aus dem Beitrag erklärt), am meisten aber mit meiner eigenen Begeisterung fürs Gärtnern – seit August 2019 beackere ich eine Parzelle in der Kleingartenanlage Neu Hoffnungstal, Berlin-Heinersdorf, und finde darin nicht nur den perfekten Ausgleich zum vorm PC-Hocken, sondern verliere mich dort auch regelmäßig im Betrachten von Gewächs und Getier. Unglaublich, was sich da auf gut 350 m² an Naturtheater abspielt!
Kein Wunder also, dass mich folgender Satz erfreute: im Garten genügt es zu sein, und das erfordert Stille (S. 14).
Aber natürlich ist er nicht so zu verstehen, wie ich ihn zunächst verstand. Clément meint nicht das physikalische Phänomen der Lautlosigkeit, auch ein Garten direkt an einer zehnspurigen Autobahn kann in diesem Sinn ganz still sein, vorausgesetzt, wir bringen das vorlaute Geplapper angelernter Gewissheiten in unserem Kopf zum Schweigen. Und gärtnern nicht nach Schema F (X, Y, Z …) los. Erst staunen, dann träumen. Wahrnehmen. Ein Quadratzentimenter Boden ist ein ganzer Kosmos.
Gilles Clément denkt Gärtnern als politisches Projekt, denn der Garten steht für das, was wir tun müssten, wenn wir eine Einsicht endlich ernst nehmen würden: Wir haben nur diese eine Welt.
Keiner ist so unmittelbar wie GärtnerInnen mit dem Hegen und Pflegen von Pflanzen und untrennbar damit mit dem Gleichgewicht von Nütz- und Schädlingen, sprich den Lebensbedingungen von Tieren befasst. Und dann sind da noch Pilze – nicht nur die mit essbaren Fruchtkörpern, sondern auch so klangvoll benannte Lästlinge wie der Sternrußtau, der mir regelmäßig die Rosen in gelbsüchtige, abgetakelte Diven verwandelt.
Der Garten, das Stückchen Grün in Eigenregie, ist die Schnittstelle zwischen natürlicher Dynamik und menschlicher Selbstverwirklichung.
Deswegen haben Gärten – Zäune. Die Einfriedung markiert die Grenze zwischen drinnen und draußen, mein und dein, privat und öffentlich. So ist das seit der Jungsteinzeit.
Aber inzwischen zäunen wir Menschen die letzten verbliebenen Wildtiere ein, gründen Nationalparks und wollen in Schutzzonen selten gewordene Pflanzen bewahren. Wir wiedervernässen ehemalige Moore und forsten auf. Wollen Ökosysteme erhalten. Das Artensterben aufhalten.
Der Garten, der Punkt, an dem sich Natur und Kultur kreuzen, verändert sich infolgedessen zwangsläufig. Der Garten ist der Ort für das, schreibt Clément, was Menschen als das Beste an der Natur erscheint. Und weil Menschen inzwischen praktisch alles ihrem Einfluss unterwerfen, wird mehr und mehr „die Natur“ das Beste, ein kostbarer Schatz, den es zu bewahren gilt.
Und so gebe ich mir wie viele andere redlich Mühe, meinen Garten, den Kleingarten in den Outskirts of Berlin, insekten-, igel- und echsenfreundlich zu gestalten. Mein Steckenpferd ist Vielfalt, ich will so viele Pflanzenarten wie möglich in die Beete holen. Bei mir wird durchgeblüht, und mein Nachbar deutet immer mal wieder vorsichtig an, dass Heerscharen von Nacktschnecken unter meinen Mulchhaufen heranwachsen und der Löwenzahn sich flächendeckend aussamt … Ich flippe aus, wenn sich sieben echte Teichfrösche dicht gedrängt am Plastebeckenrand sonnen oder ein Libellenmann seinen schillernd blauen Hinterleib himmelwärts reckt, werde ganz aufgeregt, wenn ich in der Dämmerung beinah auf einen Igel getreten wäre (der geht nämlich auch lieber auf dem Weg als durchs Gestrüpp), schiebe wieder Erde über fette weiße Larven, die ich aus Versehen ausgebuddelt habe usw.
Aber das nur am Rande.
Als politisches Projekt muss neu gedacht werden, was ein Garten ist, wo seine Grenze verläuft. Nicht der Vorgarten im Vorort, nicht der Kleingarten am Stadtrand, nicht Versailles oder Schönbrunn, nicht das Selbstversorgerparadies, nicht die Kindertobewiese hinterm Haus, nicht die Küchenkräuter aufm Balkon, nicht die Gärten der Semiramis sind der Maßstab: Es ist diese Kugel, auf der wir leben.
Wir müssen mit der Erde, wenn wir unsere eigenen Lebensgrundlagen erhalten wollen, pfleglich umgehen. Wie mit einem Garten eben. Was wir verbrauchen, muss in den Kreislauf zurückkehren. Früher, als wir das im derzeitigen Wirtschaftssystem gewährleisten. Deutlich früher.
Richtiger wäre wohl: Was wir verbrauchen, muss im Kreislauf bleiben. Wir sind eben auch nur ein Tier unter vielen anderen, nicht die Krone der Schöpfung. Vornehmer ausgedrückt: Der Mensch ist „in der Position der Immersion und nicht der Herrschaft“ (S. 17).
Die Welt, diese Erdkugel, ist ein Garten, aber nicht unser Garten.
Er ist gegens Weltall mit der Atmosphäre abgegrenzt. Gut eingepackt. Eine in sich vollständig vernetzte, untrennbare Einheit. Keine Insel ist sich selbst genug. Auch wenn Wüste und Regenwald gegensätzlicher kaum sein könnten – sie stehen im Austausch.
In den ganz großen Zusammenhängen zu denken, das zwingt uns unser eigener Erkenntnisfortschritt auf.
Es ist die Ökologie, die Clément bereits im Untertitel seines Essays erwähnt, diese junge, ungeliebte Wissenschaft (ungeliebt, weil sie schlechtes Gewissen und das Gefühl triggert, wir liefen in die falsche Richtung), sie zwingt uns, die Welt gärtnerisch zu denken. Sie vertraut den GärtnerInnen als HüterInnen des Lebendigen eine neue Aufgabe an: die Diversität zu garantieren, von der unser Überleben abhängt.
Die große Aufgabe verlangt nach einem großen Akteur: Die relevante Gärntnerin, das ist für Clément die Menschheit. Wir müssen gewissermaßen alle gemeinsam an der Rückkehr ins Paradies arbeiten.
Gilles Cléments 60-Seiten-Essay zieht den Vorhang ganz weit auf. Und ist sehr lesenswert, damit der Vorhang nicht endgültig fällt …