Altersfrage

Für diesen Sonntag ist mein erster Beitrag zur Berliner Übersetzerwerkstatt 2024 (wie immer geleitet von Thomas Brovot) angesetzt – eine Doppelstunde zur historischen Dimension literarischer Übersetzungen.

Dabei geht es mir um mehr als ein bisschen Geschichte.

Literarische Übersetzungen haben nicht nur eine sprachliche und innerliterarische Dimension. Sie entstehen in einem konkreten Kontext, setzen technische, ökonomische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen voraus. Binsenweisheit, klaro. Als ich mich damit beschäftigt habe (exemplarisch anhand der Odyssee-Übersetzungen), bin ich auf einiges gestoßen, was mir vorher alles andere als klar war.

Im „normalen Betrieb“, beim Übertragen eines Texts, blenden wir aus, dass historisch gewachsen ist, was wir für selbstverständlich halten (es sei denn, das Rad dreht sich gerade ein Stück weiter und die Gepflogenheiten werden durch politische oder soziale Impulse hinterfragt oder gestürzt). Wir arbeiten eben, konzentrieren uns auf die aktuelle Aufgabe. Deswegen finde ich es wichtig, sich innerhalb einer Fortbildung einmal anzuschauen, wie Übersetzung früher gedacht wurde, welche Streitpunkte sich quasi von Anfang an durchziehen, welche wiederum nur zu einer bestimmten Zeit diskutiert wurden. Solche Fragen.

Übersetzungen veralten. Angeblich. Zwar ist nicht wenigen ein langes Leben beschieden – Humboldts Shakespeare etwa. Oder Luthers Bibelübersetzung. Aber da wird dann eingegriffen und adaptiert und modernisiert. Mit Übersetzungen darf man so umspringen.

Übersetzungen wird abgesprochen, dass sie als literarische Schöpfungen Bestand haben.

Beim Original lässt sich da nix machen, das Original ist das Original und höchstens vorsichtig in der Orthografie modernisierbar. Oder, aber das ist literarisch schon grenzwertig, als Adaption für bestimmte Lesergruppen (Stichwort Jugendbuch) mehr oder weniger frei nacherzählbar.

Schade eigentlich, denn so sitzen französische LeserInnen auf einem schwer lesbaren Montaigne fest, während sich polnische dank einer frischen Übersetzung die Mühsal mit historischen Sprachzuständen ersparen können. Sagt Olga Tokarczuk in ihrem Essay Wie Übersetzer die Welt retten (in: Der liebevolle Erzähler, aus dem Polnischen von Lisa Palmes, Zürich: Kampa 2019).

Ziemlich spezielles Beispiel einer kaum noch lesbaren Übersetzung: Zwei Szenen aus der Odyssee im Kloster Corvey, Höxter, aus karolingischer Zeit. Meines Wissens ist dieses von späteren Putzschichten befreite Fresko der einzige Beleg, dass Homers Odyssee auch im Mittelalter nicht völlig vergessen war. Mit einiger Mühe lässt sich Skylla erkennen, auf deren Schwanz ein kopfloser Odysseus steht und sie mit einer Lanze tötet – der heilige Georg lässt grüßen.

Ich möchte eine Lanze für originale alte Übersetzungen brechen. Übersetzungen wie die von Samuel Certon oder Jane Austens Stolz und Vorurtheil von Louise Marezoll, das in der Ausgabe von 1830 bei google books eingescannt ist. Denn nur, wenn man die originale Ausgabe liest, sei es als Digitalisat, sei es in einer gut sortierten Bibliothek, hat man tatsächlich die originale Übersetzung. Spätere Ausgaben sind garantiert überarbeitet und den Konventionen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung angepasst.

Etwa beruht die Hörbuchfassung, die als Podcast in der ARD Mediathek bereitsteht, auf der Übersetzung von Marezoll, ziemlich wörtlich, soweit ich es mitverfolgt habe. Einschließlich grammatisch ungewohnter Formen. Aber die Namen der Figuren werden nach heutigem Usus englisch ausgesprochen. Anders in der Urfassung: Die Vornamen der wichtigsten Charaktere wurden eingedeutscht. Nicht mehr und nicht weniger. Aus Jane wird Johanna, was sich viel besser deklinieren lässt, und damals wurde viel mehr dekliniert als heute, schließlich war der Dativ noch nicht dahingeschieden. Und die Koseformen waren für den deutschen Leser besser zuzuordnen (Elise / Elisabeth). Und man wusste, wie die Namen klingen. Nicht zu unterschätzen für die Lesefreude, denn auch wenn still gelesen wird, im Kopf hallt der Text laut wider.

Übersetzungen sind so zeitgebunden wie das Original. Sie können eine eigene Qualität haben und von den Nachgeborenen als eigenständiges Werk rezipiert werden. Neuübersetzungen sind wichtig, beglückend, segensreich, unverzichtbar, je nach Ausgangslage. Nur den Charme und die beinah schon physische Nähe einer fast zeitgleich mit dem Original erschienen Übersetzung werden sie niemals haben. Wie im Fall Austen/Marezoll.

Der schonungslose Neuansatz eines Samuel Certon, der sich gegen die gängigen Auffassungen seiner Zeit durch seinen Homer arbeitet und dabei Anfang des 17. Jahrhunderts im Grunde die Ethik unserer Zunft heute vorwegnimmt, er verdient es, in seiner ursprünglichen Fassung gelesen zu werden und nicht wurmzerfressen in der Staatsbibliothek einzustauben. Wozu man freilich Französisch können muss.

Es ist eine Intoleranz in der Art, wie von Übersetzungen verlangt wird, sich dem Geschmack der Zeit zu beugen. Wäre es nicht an der Zeit, sich vor der Leistung früherer ÜbersetzerInnen zu verbeugen? Indem man sie – verwegener Gedanke – liest?!

Und übrigens veralten Originale auch – wenn sie nicht immer wieder neu übersetzt und damit neu belebt werden …

Ein Kommentar

  1. Schöner, differenzierter Beitrag! Und ja, Übersetzungen haben „als literarische Schöpfungen Bestand“.

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