Wie im Bericht über die Zagreber Tagung des Kroatischen Literaturübersetzerverbandes angekündigt, hier der Link zu dem Video mit Helen Sinkovićs und meinem Gemeinschaftsvortrag über die Vice-versa-Werkstätten Dt <> BKMS. Hier zudem auch der deutsche Text, der im Video in Helen Sinkovićs Übersetzung zu hören ist (Zwischenüberschriften nachträglich ergänzt):
Übersetzen als Lernen im ViceVersa-Format
Die ViceVersa-Werkstätten sind ein Fortbildungsformat des Deutschen Übersetzerfonds e.V. Sie werden seit vielen Jahren angeboten und ständig um neue Sprachen erweitert. Die finanziellen Mittel stammen u.a. vom deutschen Außenministerium und der Robert-Bosch-Stiftung. Erwartet wird zudem ein substantieller Beitrag des Landes, dessen Sprache im Zentrum der jeweiligen Werkstatt steht.
Ein Format auch für selten übersetzte Sprachen
ViceVersa ist das einzige Format, das Fortbildungen für ÜbersetzerInnen ermöglicht, die aus den sog. kleinen Sprachen übersetzen. Wo sonst hätten Georgisch-, Hebräisch-, HindiübersetzerInnen eine Chance, sich über die spezifischen Probleme ihrer Sprachkombination auszutauschen?
Die Werkstätten heißen nicht umsonst ViceVersa, was ja spiegelbildlich bzw. wechselseitig bedeutet. Das Prinzip ist Parität: zwei LeiterInnen, zehn TeilnehmerInnen. Die eine Hälfte übersetzt aus dem Deutschen, die andere Hälfte übersetzt ins Deutsche, etwa aus dem bzw. ins Tschechische, Slowakische, Russische, Italienische, Englische, Arabische, Armenische. Die Liste ist lang. Die „großen“ Sprachen sind auch vertreten, aber eben nicht nur sie.
Wie die Werkstätten im Detail ausgestaltet werden, bleibt den LeiterInnen überlassen, aber meistens wird an Texten gearbeitet, an Übersetzungen, die die TeilnehmerInnen vorher eingesandt haben.
Raum (und Zeit) für offene Diskussionen
Die LeiterInnen haben in der Regel den TeilnehmerInnen viel Berufserfahrung voraus, ihre Bibliografie ist länger, ihre Biografie meistens auch. Trotzdem sind sie nicht Lehrende in dem Sinn, dass sie den TeilnehmerInnen erklären, wie der Hase läuft. Sie bieten keine Patentrezepte, keine allein seligmachenden Lösungen an. Sie moderieren die Diskussion, problematisieren, weisen hin, animieren zum ungeschützten Reden, zu Einwänden, Bedenken, zu subjektiven Äußerungen. Sie unterstützen die TeilnehmerInnen darin, sich aus der Deckung zu wagen. Die Offenheit ist wichtig. Die Werkstätten sind ein geschützter Raum des Vertrauens.
In einem solchen geschützten Raum des Vertrauens können die LeiterInnen unterschiedliche, ja kontroverse Standpunkte zulassen. Mehr noch: Sie sind froh darüber, garantieren sie doch eine lebendige Diskussion. Übersetzen ist keine exakte Wissenschaft, sondern ein sehr persönlicher Prozess, der Widersprüche einschließt. Das Produkt dieses Prozesses ist nicht in Stein gemeißelt.
Aus dieser Prämisse folgt: Übersetzen lässt sich nicht im klassischen Sinn lehren. Darum sind die Werkstätten nicht hierarchisch angelegt. LeiterInnen wie TeilnehmerInnen sind gleichermaßen Lernende. Es gibt kein Gefälle, kein ex cathedra. Wir begegnen uns auf Augenhöhe. Im gemeinsamen Ringen um Lösungen entstehen Ideen, auf die keiner allein gekommen wäre. Hinweise, Assoziationen, Bemerkungen sammeln sich an, und aus der Menge der Beiträge sprudelt eine Fülle an Anregungen und Denkanstößen. Der Köcher möglicher Problemlösungsstrategien füllt sich. Alle im Seminar nehmen eine Art Wegzehrung für die künftige Entwicklung der eigenen Übersetzungskunst mit, ein Reservoir, aus dem sie schöpfen können.
Differenziertes Feedback
Sie bekommen auch – und zwar nicht nur von den LeiterInnen – den Blick von außen auf ihr Werk. Die anderen spiegeln ihnen wider, wie ihre Sätze, ihre Lösungen wirken. Betört die Melodie ihrer Worte, reißt der Rhythmus ihrer Zeichensetzung mit, sind Andeutungen verständlich, ist der Satzbau flüssig, wirkt eine Zweideutigkeit süffisant oder derb? In unserem einsamen Beruf ist das ein wertvolles Feedback. Statt einem pauschalen „Gefällt mir“ oder eben nicht bekommen die TeilnehmerInnen differenzierte Rückmeldungen, wo es ggf. hakt, warum sich etwas nicht erschließt, was nicht funktioniert. Sie können auf diesem Weg ein paar ungeprüfte Annahmen, von denen wir alle genug mit uns herumschleppen, hinterfragen oder gar auflösen, korrigieren oder weiterentwickeln. Oder eine unbewusste Selbstverständlichkeit auf die Stufe einer bewussten Erkenntnis heben. Es sind ja nicht alle ungeprüften Annahmen falsch.
Sich nicht im Detail verlieren
Eine Gefahr bei diesen Diskussionen ist, dass sich die Gruppe festbeißt und zu sehr im Detail verliert. Was Übersetzen so anspruchsvoll macht, ist die Tatsache, dass sich Entscheidungen auf der Satz- und Wortebene nur aus dem Kontext des ganzen Buches begründen lassen. Dieser Aspekt lässt sich nur begrenzt in den Werkstätten berücksichtigen, denn selten schafft die Gruppe mehr als zwei, drei Seiten pro Sitzung. Allerdings kennen viele TeilnehmerInnen „ihr“ Buch gut genug kennen, um ihn einzubringen. Hier ist die Expertise der LeiterInnen gefragt, sie müssen diese Berücksichtigung einfordern.
Die intensive Auseinandersetzung mit einigen wenigen Textseiten birgt zweitens die Gefahr, dass man die Kirche abreißt, statt sie im Dorf zu lassen. Übliche Folge der Diskussionen ist, dass der besprochene Text in Trümmern liegt. Überall Probleme und unvereinbare Lösungsvorschläge, die auch nicht besser klingen … Trotzdem haben wir es in unseren bisher drei Werkstätten noch nicht erlebt, dass ein Teilnehmer oder eine Teilnehmerin entmutigt aufgeben wollte oder verzagt geworden wäre, eher im Gegenteil: Dafür ist es viel zu anregend, und dass man mit fertigen Texten nach Hause geht, hat ohnehin niemand erwartet.
Keine Gefahr, aber eine Herausforderung sind TeilnehmerInnen, die auf einem Punkt insistieren und nicht lockerlassen und die ganze Gruppe in ihre Spur zwingen. Eine Herausforderung nicht nur, aber vor allem für die jeweils federführende Moderatorin. Die Herausforderung liegt aber nicht darin, die nervtötende Hartnäckigkeit abzuwürgen. Gefordert ist das Gespür, ob dahinter nicht doch ein Problem liegt, das nur noch nicht klar zu sehen ist, und ggf. Hebammendienste zu leisten. Übersetzen ist eine Kunst, und zum Wesen von Kunst gehört, dass sich vieles nicht oder nur ganz schwer verbal fassen lässt, selbst beim Übersetzen nicht, der Kunst der Worte.
Vertieftes Verständnis der Ausgangssprache
Einer der netten Aspekte von Vice versa ist, dass man auf dem kurzen Dienstweg Verständnisprobleme klären kann und sich diesen Vorzug für die Zukunft sichert, weil sich ganz automatisch neue Freundschaften bilden. Aber dieser Aspekt ist nachrangig.
Die ÜbersetzerInnen ins Deutsche verfolgen mit, was die ÜbersetzerInnen aus dem Deutschen in ihrer Sprache machen und vice versa. Beide Seiten sehen und lernen ein Stück weit verstehen, wie und wieso sich – sagen wir – Redewendungen verändern, Nebensätze in Infinitiven verschwinden, Realia ein ungewohntes Erscheinungsbild bekommen usw., die ganze Palette, die wir Übersetzenden hinlänglich kennen.
Und das ist spannend. Die Probleme sind sich so verdammt ähnlich. Beide Seiten behaupten, sie müssten beispielsweise grammatische Konstruktionen den Stilvorstellungen der eigenen Sprache anpassen. Seltsamerweise behaupten das beide Sprachrichtungen von denselben grammatischen Konstruktionen, etwa sie würden passivisches aktiv umformulieren – ein Hinweis auf die Untiefen des Übersetzens, die Sandbänke, auf denen wir stranden, sobald wir anfangen zu erklären, was wir tun. Beim Übersetzen selbst schwimmen wir uns frei, beim Erklären verlieren wir uns im Allgemeinen oder verstricken uns im Kleinklein.
Neue Freiheit in der Zielsprache
Die Erklärungen sind nicht spannend. Spannend ist das konkrete Mitverfolgen, wie das Deutsche im Kroatischen tickt und umgekehrt. Nicht in theoretischen Überlegungen, nein, im Einblick in die praktische Tätigkeit liegt der Mehrwert von ViceVersa-Werkstätten.
Es ist so heilsam, mitzuerleben, wie ein deutscher Text im Kroatischen laufen lernt und umgekehrt. Zu verstehen, welche Probleme warum nach Lösungen schreien und welche Lösungen das sein könnten. Es vertieft das Verständnis der Ausgangssprache, und es ist heilsam, weil es eine neue Freiheit in der Zielsprache verleiht: die Lizenz, sich in der eigenen Sprache frei zu bewegen.