virum mihi, Camena …

So beginnt Fragment L1 von 40. Mehr als solche Bruchstücke ist von einer der frühesten historisch greifbaren Übersetzungen der Odyssee nicht erhalten. Und selbst diese Fragmente werden kontrovers diskutiert, wurden sie doch aus Zitaten in den Schriften späterer Autoren erschlossen. Die ursprüngliche Übersetzung ist längst untergegangen.

Über ihren Verfasser – Livius Andronicus – ist nur wenig bekannt. Ja, selbst über das „faunische“ Versmaß, in dem er seine Odusia schrieb, so genannte Saturnier, lässt sich „genau genommen absolut nichts Gesichertes“ sagen.

Na toll.

Dabei wüsste man gern mehr. Denn diese Übersetzung hatte weitreichende Folgen: Sie gilt als Initialzündung der römischen Dichtung.

Mit seinen Übertragungen wurde Livius zum Schöpfer der lateinischen Dichtersprache […] Seine Pionierarbeit ist immens: So mußte er die Poetizität eines Wortes und der Wortstellung erst selbst bestimmen, grammatikalische Regeln aufstellen, die Formenlehre standardisieren, Worte neu prägen. […] Livius hatte einen Weg gewiesen und wurde als Archeget der römischen Literatur verehrt, aber […] Schon Cicero konstatierte, daß kein Werk des Livius es lohne, zweimal gelesen zu werden, und verglich die Odusia mit den primitiven Statuen des Daedalus.

Christine Walde: Die Fragmente (lat.) des Livius Andronicus. In: Kindlers Literaturlexikon, München 1988, Bd. 10, S. 492f

Livius‘ Odusia wurde gewissermaßen Opfer ihres eigenen Erfolgs – sie befeuerte Literatursprache und Geschmack derart, dass sie selbst binnen Kürze als veraltet und unliterarisch galt.

Entstanden im 3. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung in Rom, angefertigt von Lucius Livius Andronicus, einem mutmaßlich versklavten, später freigelassenen Kriegsgefangenen aus Tarent, im 2. Jahrhundert v.Chr. von unbekannter Hand zu Hexametern umgearbeitet, bis ins 3. Jahrhundert n.Chr. als Schul- und Übungsbuch genutzt, dann vergessen.

Die ersten fünf Worte der Odyssee in Livius‘ Übertragung sind überliefert.

Durch ein Buch. das nicht erhalten ist, sondern aus Zitaten späterer Autoren rekonstruiert wird: Buslidianus von Aulus Gellius (125-170). Der hatte offenbar einen Heidenspaß am Exzerptieren und wurde durchs Mittelalter bis in die Renaissance für seinen Sammeleifer hoch geschätzt.

Aus dem also, was die Humanisten bei den mittelalterlichen Schreibern abschrieben, fischt man ein Zitat aus der Übersetzung der Odyssee. Schon zwischen Niederschrift der Übersetzung und der ersten Niederschrift des Zitats liegen vier Jahrhunderte.

Immerhin werden Autor, Werk und Zitatstelle ausdrücklich genannt: Livii Andronicii, οδύσσεια, versus primus. Deswegen gehört Fragment L1 zu den sichereren. Und es ist auch vom Wortlaut her ziemlich eindeutig.

virum mihi, Camena, insece versutum. ἄνδρα μοι ἔννεπε, μοῦσα, πολύτροπον.

Die Wortstellung ist ein bisschen anders, 100% identisch wären virum mihi insece, Camena, versutum. Die Umstellung folgt, schreibt Antoine Viredaz, den Erfordernissen des lateinischen Versmaßes (§91, S. 96, Literaturangabe s.u.).

Camena ist eine Quellnymphe, von denen es, wie bei den Musen, etliche gibt. Der Übersetzer passt den Namen dem Kenntnisstand seines Publikums an.

ennepe und insece sind beide Daktyle (betont unbetont unbetont, oder: lang kurz kurz, Merkhilfe Zeigefinger). Zudem sind das griechische und das lateinische Wort ähnlich aufgebaut; gut möglich, dass sich Andronicus, der beide Sprachen unterrichtete, darüber klar war (vgl. Viredaz 97ff).

In versutum steckt wie im tropon das Wenden bzw. Wendige. Viel (πολύ) hat er weggelassen, hätte wahrscheinlich zu artifiziell geklungen.

Was man beim Übersetzen halt so macht.

Ab dem Moment, da auf Erden Schrift und Sprache existierten, scheint sich wenig am Übersetzen geändert zu haben. Höchstens die eine oder andere Mode, die irgendwann auch wieder vorbei ist.

Literatur

Antoine Viredaz: Fragmenta Saturnia Heroica. Introduction, traduction et commentaire des Fragments de l’Odyssée latine de Livius Andronicus et de la Guerre punique de Cn. Naevius. Basel: Schwabe Verlag 2020

Screenshot des online zugänglichen Textes bei der Bibliotheca Augustana

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