Im 16. Jahrhundert gab es kaum Homer-Übersetzungen ins Italienische, und an den wenigen ließen spätere Kritikergenerationen kein gutes Haar. Interessant sind sie trotzdem: Zumindest als Dokument für ein verlegerisches Phänomen.
Ludovico Dolce (1508-1568) war gebürtiger Venezianer, erhielt eine solide Ausbildung und arbeitete u.a. als Herausgeber und Übersetzer für Gabriele Giolito de’ Ferrari, der wie damals üblich Drucker, Verleger und Buchhändler in Personalunion war und mit Ariosts Orlando furioso einen Bestseller landete.
ERANO TUTTI i Greci ritornati
L’VLISSE/ di m. lodovico dolce/ da lvi tratto/ dall’odissea d’homero/ et ridotto in ottava rima/ nel qvale si raccontano tvtti gli/ errori, & le fatiche d’Vlisse dalla partita sua di Troia, fino al ritorno/ alla patria per lo spatio di uenti anni./ con argvmenti et allegorie a ciascvn/ Canto, cosi dell’Historie, come delle Fauole, & con due Tauole : una/ delle sententie, & l’altra delle cose piu notabili./ [fleuron]/ con privilegi./ [marque : semper eadem]/ in vinegia appresso gabriel/ giolito de’ ferrari./ m d lxxiii. Vom Anfang des canto primo.
A le lor patrie, à le natie contrade;
Tutti quelli dico io, che fur campati,
Ò d’altre morti, ò da le Frigie spade.
Sol vivea lunge à i cari tetti amati
Ulisse, e non per sua sceleritade:
ma sol perché Calisso lo teneva,
Seco per forza, e di lui tutta ardeva.
Der Name Odysseus (Ulisse) fällt schon in der sechsten Zeile, die Nymphe Kalypso (Calisso), die ihn festhält, wird in der siebten genannt: Dolces Text beginnt nicht mit der Anrufung der Muse. Er fängt direkt mit der Story an: Alle anderen sind tot oder schon daheim, nur unser Held wird auf einer entlegenen Insel festgehalten.
Und noch eins fällt auf: Dolce reimt. Ritornati/campati/amati, Contrade/spade/sceleritade, teneva/ardeva. Reimscheima: abababcc. Das hält er durch. Die nächsten Übersetzer ins Italienische fühlen sich vom Reimzwang zu sehr eingeengt, zu sehr zu Abweichungen vom Original gezwungen. Baccelli, Salvini, Pindemonte und Leopardi entscheiden sich für ein Versmaß, aber gegen den Reim.
Dolce übersetzte vermutlich nicht aus dem Griechischen, sondern nach lateinischen Übersetzungen, und (ich referiere Silvia D’Amicos Aufsatz, s.u.) er übersetzte so, dass sich ein zeitgenössischer italienischer Leser spontan in die Geschichte hineinversetzen konnte. Seine sprachliche Gestaltung bot wenig Widerstand. Spezifisch Griechisch-Antikes, Epitheta, Abschweifungen und Formeln wie die von der Eos, der rosenfingrigen, ließ er weg, dafür erfand er Details und baute Sachen ein, die beim Orlando abgeschaut sind.
… die allegorische Interpretation steht im Zentrum des editorischen Eingriffs, der Text Homers soll nur Erzählstoff liefern, der sich in dieselbe allegorische Form pressen lässt, die den Erfolg Ariosts garantierte.
Silvia D’Amico: Lire les classiques à la Renaissance entre L’Italie et la France: Quelques notes sur Homère. In: Dies., Sabine Lardon (Hg.): Homère en Europe à la Renaissance : traductions et réécritures, Chambéry : Université de Savoie Mont Blanc 2017, aus dem Französischen von mir
Aber vielleicht bezieht Lodovico Dolce die Prügel ganz zu Unrecht – seine Übersetzung erschien posthum 1573.