A bisserl en Biss brauchts scho

Mein Held geht mit dem bis auf allerletzte Reste verklungenen Sonnenuntergang im Rücken auf eine Frau zu und nennt ihn – seinen Rücken – den Abgrund, aus dem die Wolkenungeheuer aufsteigen. Im Kroatischen steht für Abgrund abis, ein unauffälliges Wort.

Der Abgrund, die Schlucht, Kluft, Klamm oder der Schlund – das Wortfeld hält viele Ausdrücke bereit. Abyss gehört nicht dazu, aber so werde ich es übersetzen. Warum?

Der Rücken als Steilwand, die in die Kluft abfällt, als Felskante, eine Seite der Schlucht, meinetwegen, aber als Abgrund? Das Bild ist schief. Hat der Autor daneben gegriffen?

Nein, denn Rücken ist im Kroatischen ein Pluralwort, offenbar werden darin zwei Hälften in Verlängerung der Schulterblätter zusammengedacht. Und wenn man die Schulterblätter hinten zusammenzieht, entsteht dazwischen eine Art Schlucht.

Das Bild ist im Kroatischen also stimmig, aber im Deutschen muss ich mit dem Singularwort Rücken klarkommen.

An dem Beispiel kann ich ganz gut erklären, was ÜbersetzerInnen meinen, wenn sie von Interpretation des Textes sprechen. Schon das Auseinandernehmen des Sprachbildes ist eine Interpretationsleistung, aber sie legt ’nur‘ das Problem frei und eröffnet noch keine Lösung.

Dazu muss ich die Interpretation ein wenig weiter treiben.

Im kroatischen Wort (wobei: es ist auch im Kroatischen ein Fremdwort) abis schwingt christliches Erbe mit. In unserem Fremdwortschatz wäre Abyssos oder, latinisiert, Abyssus die Entsprechung. Mit Abyssos und Wikipedia ist der Weg zum Johannesevangelium bzw. der Apokalypse nicht weit.

Janko Polić Kamov setzt sich in seinem Roman Isušena Kaljuža immer wieder mit dem Christentum auseinander und meistens so wie an dieser Stelle recht unauffällig.

Wenn ich einen Zusammenhang zur Apokalypse ziehe, dann, weil der Kontext relativ eindeutig ist – Kamov spricht vom Mond als Luna, als Königin der Nacht, als Jungfrau und setzt diese wenige Zeilen vor der hier diskutierte Stelle der Madonna gleich. Er spricht vom Kampf Gut (Luna, der Mond) gegen Böse (dunkle Monsterwolken). Die Bilder, die er in dieser Passage evoziert, entsprechen denen der Apokalypse.

Doch wenn ich abis mit Abyssos übersetze, wirkt die Stelle übertrieben aufgeladen. Was bei Kamov ein eingeschlenzter Sidekick ist, wird zum Verweis mit dem Vorschlaghammer.

Deswegen Abyss. Was im Deutschen ein Neologismus ist, als Wort so nicht existiert. Ich imaginiere mir meine Leserschaft als eine, die es trotzdem versteht, vielleicht auch genießt, und setze insgeheim darauf, dass sie darüber wegliest, ihr der Abyss also gar nicht groß auffällt.

Ich spreche, denke ich, für meine Zunft, nicht nur für mich: In solche Verästelungen gehen die Überlegungen literarischer ÜbersetzerInnen. Mühsam genug, sie für eine Stelle aufzudröseln. Unmöglich, sie für ein ganzes Buch darzustellen. Einer der Gründe, warum das Übersetzen als Kunstform vermutlich für immer im Schatten bleibt.

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